Fachbeiträge

Ausgabe 11 / /2017
Fachbeitrag Human Resources

VUCA: Widersprüche & Paradoxien im Führungsalltag

von Herbert Schober-Ehmer

Widersprüche in Organisationen und im Führungsalltag gab es schon immer. Der Blick zum hierarchischen Vorgesetzten lieferte meist eine mehr oder minder zweifelsfreie Antwort. Und wo sie unauflösbar schienen, weil beide Seiten des Widerspruches für sich nicht nur legitim, sondern erforderlich sind, ist die Organisationsstruktur (z.B.: zwei Bereiche Produktion und Vertrieb, vielleicht mit einer Matrix gekoppelt) eine passende Form, solche Dilemmata zu bewältigen. Es ist jedoch zu beobachten, dass die Dynamik auf den Märkten, die rasante Digitalisierung und die Forderung nach Agilität die Entscheider mit immer mehr logisch nicht zu lösenden Widersprüchen (nach richtig – falsch, entweder – oder) konfrontiert wurden. Der Begriff Paradoxie fand Eingang in die Klagen von Führungskräften, wenn sie über die Anforderungen in VUCA-Umfeldern sprachen.

Inhaltsübersicht:

Die Karriere des Akronym VUCA entwickelte sich parallel zur Reduktion sicherer Entscheidungsgrundlagen für das strategische Management:

  • Volatile Umfelder – hohe Schwankungsbreite mit unbeständiger Veränderungsgeschwindigkeit,
  • Unsicherheit durch disruptive Innovationen und Entwicklungen – Unkenntnis über die relevanten Einflussgrößen und deren Zusammenspiel,
  • Complexität globaler Vernetzungen – unüberschaubare Variablen mit nicht linearen Rückkopplungen und
  • Ambiguität bei der Situationsbeurteilungen und Entwicklungsprognosen – mehrdeutige Interpretierbarkeit

haben die vergleichsweise komfortabel überschaubaren Planungsgrundlagen abgelöst, auf denen Unternehmensstrategien vor Globalisierung, Digitalisierung und weltweiter Vernetzung aufzusetzen pflegten.

Die Arbeit mit Personen – die in solchen Umfeldern weitreichende Entscheidungen zu treffen und zu tragen haben – zeigte immer wieder, dass die durch VUCA bedingten paradoxen Anforderungen als vorwiegend unangenehm und belastend erlebt wurden. Diese emotionalen „Begleiterscheinungen“ sind durchaus als ein zusätzlicher Risikofaktor in heiklen Entscheidungssituationen zu werten. Das war der Ausgangspunkt für eine Online-Umfrage zum Umgang mit Paradoxien unter 900 Führungskräften im DACH-Raum. Daher war es für Redmont naheliegend, einen aktuellen Befund zu erheben. In einem Satz zusammengefasst, lautet das Ergebnis: „Es ist das Ende der konventionellen Logik, aber wir fühlen uns gut dabei.“

Paradoxien auf dem Vormarsch, Leidensdruck auf dem Rückzug

In der Tat sind Paradoxien selbstverständlicher Teil des Führungsalltags – und das in zunehmendem Maße: Lediglich sieben Prozent der Führungskräfte geben an, nur selten mit den in der Umfrage beispielhaft angeführten Widersprüchen und Paradoxien zu tun zu haben. 36 Prozent sehen sich „sehr häufig“ damit konfrontiert, 56 Prozent „immer wieder“. Häufigkeit und Deutlichkeit der Paradoxien habe in den letzten drei Jahren stark zugenommen, meinen 53 Prozent, nur 19 Prozent erlebten keine Zunahme.

Andererseits widerlegten die Ergebnisse recht deutlich die Annahme eines schädlichen Leidensdruckes durch paradoxe Entscheidungsanforderungen. Hatten Berater in vielen Projekten erlebt, dass paradoxe Zielwidersprüche als besonders unangenehme Belastung thematisiert wurden, scheint es nun, als hätte die Führungselite professionelle Gelassenheit entwickelt: Knapp die Hälfte (49 Prozent) der Teilnehmer bewertet die damit verbundenen Herausforderungen als neutral, immerhin 35 Prozent empfinden sie sogar als positiv und nur noch 24 Prozent sind sie lästig. Dies mag daran liegen, dass mittlerweile eine ganze Palette von Strategien für den Umgang mit Widersprüchen und paradoxen Anforderungskonflikten zur Verfügung stehen: Über 90 Prozent setzten auf einen offenen Kommunikationsprozess und 60 Prozent ziehen Experten zu Rate. Nur mehr ein Drittel der Befragten bekennt sich dazu, einsame, begründungslose Bauchentscheidungen zu treffen, während bereits über ein Viertel diesen Zugang rundweg ablehnt.

Typische Paradoxien betreffen Anforderungen wie

  •  
zugleich Zukunftsinvestitionen zu entscheiden und wachsenden Ertragsdruck zu bedienen,
  •  
in immer kürzeren Innovationszyklen an der Spitze zu bleiben und gleichzeitig ertragsstarke Cash-Cows zu pflegen,
  •  
in einem stetig enger werdenden regulatorischen Korsett wirksam zu innovieren, Change-Prozesse anzustoßen und dabei dennoch der Effizienz und der Qualität zuliebe Routinen zu bewahren,
  •  
rechts- und prinzipientreu zu agieren und dabei pragmatische, kundenorientierte Antworten zu geben,
  •  
individuelle Betreuungserfordernisse zu bedienen und dabei starre Zeitkorsette einzuhalten,
  •  
die Notwendigkeit, rasche Entscheidungen zu treffen und kaufmännisch soliden Risikoeinschätzungen (Erfordernisse für ausführliche Analysen) zu liefern,
  •  
Langfristige Planungskonzepte verfolgen und kurzfristigen Erfolgs- und Legitimationsdruck entsprechen,
  •  
Unternehmenszyklus und Produktlebenszyklus harmonisieren,
  •  
Produktionsqualität und Kontinuität sicherstellen und permanenten Änderungserfordernissen und Risikobereitschaft entsprechen.

Offene Fragen – offene Antworten

Unerwartet umfangreich und vielschichtig fielen die Antworten aus, welche zu den am Ende der Online-Befragung gestellten offenen Fragen nach Paradoxien in der täglichen Führungspraxis und den besten Rezepten zu ihrer Bewältigung gegeben wurden. Besonders verbreitet und offensichtlich ein Zeichen der Zeit scheinen demnach paradoxe Anforderungen im Zieldreieck von Kostenreduktion, Qualitätsführerschaft und radikalen „Time to Market“-Tempoanforderungen zu sein.

Die in Mission Statements und Unternehmensphilosophien gerne beschworenen nachhaltigen Werte und Sinnstiftungen prallen täglich auf Sachzwänge und Augenblickserfordernisse. Führungskräfte würden gerne Werte leben, haben aber Verwertungslogiken zu bedienen: Regelmäßig kollidiert die Entschlossenheit, Visionen zu realisieren, mit der Wirklichkeit der begrenzt verfügbaren Kapazitäten. Man sollte langfristig planen, steht aber unter extrem kurzfristigem Erfolgs- und Legitimationsdruck. Kaufmännische Sorgfalt in Analyse und Risikoeinschätzungen prallt auf die Notwendigkeit, rasch zu entscheiden und das in immer schwerer einzuschätzenden Umfeldern.

Dass diese Widersprüche stark in die Organisationen hinein strahlen und sich zunehmend in Unternehmenskulturen spiegeln, liegt auf der Hand. Aus den offenen Antworten ist dies herauszulesen: Forderungen nach Flexibilität, Agilität, Dezentralität und Mobilität kollidieren auf allen Führungsebenen mit einer anerzogenen Angst vor Kontrollverlust. Karrierewünsche individueller „Ich-AGs“ prallen mit Kooperationserfordernissen und Teamperformance-Bewertungen zusammen. Bei stagnierenden oder enger werdenden Handlungsspielräumen haben Einzelne immer mehr Verantwortung zu schultern.

Gleichzeitig stehen wichtige Organisationseinheiten – wie Vertrieb und Produktion – miteinander oft im internen Wettbewerb um strategische und taktische Vormachtstellungen in sich ebenfalls in paradoxer Weise widersprechenden Prioritäten, Aufgabenverständnissen, Qualitätsauffassungen und Selbstbildern. Verantwortungsträger finden sich ohne den angemessenen Handlungsspielraum und müssen sich gelegentlich gegenüber mikro-managenden Vorgesetzten auf der Detailebene rechtfertigen. Ehrlichkeit ist gefragt, aber Taktik und Harmonieproduktion machen das Rennen. Der Zug zu zentraler Kontrolle und Bündelung von Kompetenzen steht im Widerspruch zum effizienten Umgang mit Sach- und Entscheidungskompetenzen der dezentralen Business Units. So kritisch das klingen mag, es wurde verstanden, dass Führung diese Formen der Bewältigung selbst zum Führungsthema machen müssen, statt sie zu beklagen.

Nicht wenige der freien Antworten der Befragten in der Studie spiegeln einen konstruktiven Umgang mit Widersprüchen. Die am häufigsten genannten persönlichen Erfolgsrezepte sind Gelassenheit, Humor, Vertrauen, dass es mehr als eine Lösung gibt (open-mindedness), offene Kommunikation über alle beteiligten Aspekte sowie strikte persönliche und sachliche Transparenz. Auch Flexibilität, Mut zu ungewöhnlichen Lösungen und Lust auf Perspektivwechsel wurden häufig genannt. Wobei Führungskräfte, die Paradoxien als positive Herausforderungen erleben, offener sind für produktiven Gedankenaustausch: Sie wenden sich deutlich häufiger mit dem Thema an Experten oder Vorgesetzte als jene, die solche Herausforderungen als schwierig empfinden. Umgekehrt: Führungskräfte, die paradoxe Herausforderungen als schwierig erleben, geben tendenziell häufiger an, gar nichts entscheiden zu müssen, weil sich Entscheidungen aus den Organisations-Routinen von selbst ergeben: "Es läuft einfach“.

Strategien der Paradoxie-Bewältigung

  •  
Agilität: Kreation neuer Ziele und Strategien
  •  
Neugier: Testen von Optionen durch Projekte
  •  
Dialektik: Kompromisse nicht als 50:50 Lösungen verstehen, sondern das Finden eines dritten Weges im Rahmen eines Konsensprozesses
  •  
Teamwork: Klärung der Widersprüche mit Mitarbeitern, entwickeln einer gemeinsamen Einschätzung von Dringlichkeit und Wichtigkeit
  •  
Zielfokus: Kluges, taktisches Abwägen der Unterschiede auf Basis übergeordneter Ziele
  •  
Entschiedenheit: bewusste Vernachlässigung einer Option
  •  
Kluges Loslassen: Opfern langfristiger Aspekte zu Gunsten kurzfristiger Kostenziele
  •  
Gelassenheit: Zurücklehnen im Vertrauen, dass sich durch neue Erkenntnisse oder veränderte Rahmenbedingungen Entscheidungen „ergeben“

Fazit

Paradoxe Situationen und Entscheidungsanforderungen treten immer häufiger auf, führen aber nicht zwangsläufig zu einem größeren Leidensdruck bei den Betroffenen. Ursachen für Paradoxien finden sich im wirtschaftlichen und rechtlichen Umfeld von Unternehmen, in widersprüchlichen Zielsetzungen und häufig auch in unternehmensinternen Strukturen. Zu bewältigen sind sie durch ein mittlerweile umfangreiches Set von Herangehensweisen und Werkzeugen. Dazu zählen: Agilität, institutionalisierte Neugier, dialektische Konsensbildung, Teamwork, Abwägung auf Basis übergeordneter Ziele, bewusste Bevorzugung bzw. Vernachlässigung von Optionen und allenfalls auch passives Abwarten mit einem achtsamen Blick, auf das, was mit Sachzwang begründet wird..

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