Fachbeiträge

Ausgabe 4 / /2012
Fachbeitrag Demografie

Wissen vor dem Ruhestand retten

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Seit die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs ist, gibt es immer mehr offene Stellen, die nur schwer zu besetzen sind. Die düsteren Prognosen über den allgemein steigenden Mangel an qualifizierten Mitarbeitern, die in aller Munde sind, tun ein Übriges: Bei Unternehmern aus allen Branchen schrillen die Alarmglocken; sie befürchten Gefahren für ihr Zukunftsgeschäft. Denn der Fachkräftemangel macht auch vor den Chefetagen keinen Halt. Daraus folgt: Unternehmen müssen sich jetzt verstärkt um Führungskräfteentwicklung und Nachfolgeplanung kümmern. 

Interview mit Hans-Ulrich Lindner

Der Fach- und Führungskräftemangel macht sich auch in der Automobilindustrie bemerkbar. Und er fordert von den Unternehmen Kreativität im Personalmanagement. Die Verantwortlichen haben längst erkannt: Das Wissen und die Erfahrung älterer Mitarbeiter zu bewahren, wird immer wichtiger. Damit man auch noch darauf zugreifen kann, wenn diese im Ruhestand sind, ist ein „nachhaltiger und zukunftsweisender Ansatz“ sinnvoll, sagt Hans-Ulrich Lindner, ehrenamtlicher Beirat und Executive Partner der ASE Automotive Senior Experts GmbH.

Herr Lindner, bis vor wenigen Monaten waren Sie im BMW-Einkauf und Lieferantennetzwerk für die Bereiche Elektrik/Elektronik, Software und Interieur verantwortlich. Jetzt sind Sie im Ruhestand und engagieren sich ehrenamtlich im ASE-Beirat. Warum?
Weil mich die Idee von ASE überzeugt, das Wissen und die Erfahrung von Fach- und Führungskräften für die Unternehmen möglichst lange verfügbar zu halten. Besonders vor dem Hintergrund des demografischen Wandels manövriert sich die Automobilindustrie in eine schwierige Situation, wenn es nicht gelingt, den großen Wissens- und Erfahrungsschatz ihrer erfolgreichen Mitarbeiter zu bewahren und diesen an die Jüngeren weiterzugeben.

Was sind Ihre Aufgaben im Beirat?
Der Beirat des ASE-Management-Teams ist für methodische Beratung, Strategie und Qualität zuständig. 33 Jahre lang war ich bei BMW tätig, davon fast 20 Jahre in den Bereichen Einkauf und Logistik. Ich kenne die Automobilindustrie und insbesondere die Zulieferlandschaft und ihre Herausforderungen in allen Facetten. Mit diesem Wissen möchte ich ASE unterstützen, die strategische Ausrichtung wie auch das operative Geschäft optimal auf die spezifischen Bedürfnisse der Automotive-Branche auszurichten.

Sehen Sie Senior-Expert-Initiativen wie ASE eher als Plattform für aktive Ruheständler oder als Personalmanagement-Instrument für die Unternehmen?
Beides. ASE bietet Menschen, die über das Erreichen des Rentenalters hinaus weiter beruflich aktiv sein wollen, eine exzellente Plattform. ASE vermittelt sie nicht nur, sondern nimmt ihnen auch viele administrative Aufgaben ab. So können sich die älteren Mitarbeiter darauf konzentrieren, ihr Wissen dort weiterzugeben, wo sie Experten sind und viele Jahre Erfahrung gesammelt haben. Gleichermaßen ist der Einsatz von Senior-Experten aber auch für Unternehmen – OEMs wie Zulieferer – eine sehr effiziente Maßnahme: Mit ihrer Hilfe kann man akute Probleme, die kurzfristig den Einsatz von erfahrenen Spezialisten notwendig machen, lösen. Es handelt sich also um eine sogenannte „Win-Win-Situation“, bei der alle Beteiligten einen Nutzen erzielen.

Was zeichnet ASE aus?
ASE verfügt über ein Netzwerk von über 1.400 Senior-Experten aus der Automobilindustrie und ist damit die größte Initiative dieser Art in Europa. Und: ASE löst Engpässe schnell. Jüngst gelang es, für einen Task-Force-Einsatz in China einen Experten binnen 48 Stunden zu vermitteln und auf die Reise zu schicken. Und auch das ist wichtig: Der Zufriedenheitsgrad auf Seite der Unternehmen ist sehr hoch. ASE kann längst auf eine stattliche Liste treuer, zufriedener Stammkunden verweisen.

Eine alte Weisheit lautet: „Die Jungen können schneller laufen. Die Alten kennen die Abkürzungen.“ Gilt sie noch in unserer heutigen Arbeitswelt?
Diese alte Weisheit ist auch heute noch aktuell. Vor allem wenn man weiß, dass die älteren Mitarbeiter nicht nur viele Wege kennen, sondern in der Regel auch über ein weit verzweigtes Netzwerk von Kontakten verfügen. Über solche Netzwerke verfügen auch die Experten von ASE. Wenn schnelle Lösungen gefragt sind, ist das eine sehr wertvolle Unterstützung.
Und man kann die Redewendung sogar noch ergänzen: Die Älteren kennen auch diejenigen, die die Wegweiser aufstellen!

Ein Berufsleben nach dem Ruhestand ist heute noch die Ausnahme. Wie lange werden wir uns das noch leisten können?
Initiativen wie ASE erhalten der Automobilindustrie das Potenzial ihrer hoch qualifizierten Führungskräfte, was meiner Meinung nach auch eine ökonomische Notwendigkeit ist. Die Menschen werden immer älter und sind gleichzeitig auch länger leistungsfähig. Wir alle wissen um die problematische Situation der Rentenkassen, die in beängstigendem Tempo zunimmt.

Wo gilt es, anzusetzen?
Der springende Punkt ist: Die Menschen sind heute auch im Rentenalter noch viel leistungsfähiger als vor 20 oder 30 Jahren. Mir ist zwar keine offizielle Statistik bekannt, die Auskunft gibt, wie viele Menschen in Führungspositionen tatsächlich über den Ruhestand hinaus gerne weiter arbeiten würden. Aber ich schätze, dass sich jeder Zweite auch im Ruhestand noch beruflich engagieren möchte – der eine mehr, der andere weniger. Sich von einem Tag auf den anderen nur noch seinen Hobbys zu widmen, damit können sich nur wenige Führungskräfte anfreunden.

Die Unternehmen verlieren ja auch von einem Tag auf den anderen wertvolles Know-how…
Das ist in der Tat ein großer Verlust, der vielfach unterschätzt wird.

Unternehmen wie Bosch oder Volkswagen gründeten eigene Senior-Experten-Pools. Ist das die Zukunft?
Ich bin ganz sicher, dass dieses Aktivitätsfeld künftig verstärkt in den Fokus der Unternehmen rücken wird. Fachwissen kann man aus Büchern lernen, Erfahrungen nicht. Wir alle kennen das Beispiel mit der Herdplatte, die trotz des Wissens, dass sie heiß ist, dennoch „erfahren“ werden muss. Erfahrungen sind deshalb so wertvoll, weil man einerseits viel Zeit braucht, um sie zu erwerben, andererseits aber Fehler nicht zweimal gemacht werden müssen. Es geht darum, die Erfahrungen des Einzelnen gezielt an Jüngere weiterzugeben und auf diese Art für das Unternehmen zu erhalten.

... im Unternehmen oder besser extern?
Ob dies direkt im Unternehmen geschieht oder ob Experten-Erfahrung in anderer Form „verfügbar“ bleibt, da muss jedes Unternehmen seine eigene Lösung finden. ASE steht im Übrigen auch Unternehmen, die interne Senior-Expert-Lösungen aufbauen möchten, als Ansprechpartner zur Verfügung.

Welche Grundsätze definieren Sie für den Einsatz von Senior-Experten?
Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit. Beide Seiten müssen ihre Bedürfnisse klar definieren und abstimmen. Am erfolgversprechendsten sind individuell gestaltete Lösungen, die flexibel sind und bei Bedarf oder sich ändernden Rahmenbedingungen angepasst werden können.

Für welche Art der Unterstützung sind Senior-Experten heute in einem Unternehmen der Automobilindustrie besonders geeignet?
Einen Schwerpunkt sehe ich im Bereich des Interim Managements, zum Beispiel in der Produktion und Fertigungsvorbereitung. Und zwar immer dann, wenn kurzfristiger Bedarf an professioneller, praxisorientierter Expertise gefragt ist. Die Senior-Experten von ASE arbeiten als Unterstützer. Sie leiten Task-Force-Einsätze oder zeitlich befristete Projekte unterschiedlichster Ausrichtungen, begleiten Neuanläufe, Aufbau- und Modernisierungsprozesse im In- und Ausland. Dabei sind sie immer eng eingebunden in die bestehende Organisation. Als sogenannte „Manager auf Zeit“ stehen sie niemals in Konkurrenz zu Mitarbeitern und Führungskräften im Kundenunternehmen.

Wo sehen Sie Einsatzmöglichkeiten für einen Senior-Experten außerhalb der Produktion, zum Beispiel im Einkauf?
Beispielsweise wenn es um die Systematisierung von Einkaufsprozessen und um nachhaltige Ergebnisverbesserungen geht. Nehmen Sie als Ausgangssituation Kostenprobleme beim Zulieferer und dessen Sublieferanten. Gesucht sind dann Lösungen, die nachhaltig Wirkung zeigen, ohne die Qualität der Produkte oder die Versorgungssicherheit zu beeinträchtigen; etwa indem man die Methodik hinterfragt, Prozesse neu definiert und mehr Transparenz schafft – beim Auftraggeber wie beim Lieferanten. In diesem Bereich sehe ich ein weites Betätigungsfeld für Senior-Experten. Eine rege Nachfrage bestätigt uns das. Ähnlich gelagert ist die Situation in der Logistik und im Qualitätsmanagement sowie in den Bereichen Finanzen und Controlling, Vertrieb, Marketing oder IT.

Wie groß ist die Not an Fach- und Führungskräften in der deutschen Zulieferindustrie heute schon?
Extrem groß. Der Wettbewerb um Talente verlor zwar in der Krise 2008/2009 kurzzeitig an Priorität, ist jetzt aber umso heftiger neu entfacht. Strategisch weitsichtige Unternehmen haben schon in der Krise gut vorgesorgt. Aktuell erleben wir einen in dieser Schärfe nie dagewesenen Kampf auf allen Ebenen, bei OEMs, Zulieferern bis in den Non-Automotive-Bereich hinein.

Was sollte ein Senior-Experte neben Erfahrung und Fachwissen an sogenannten „soft skills“ mitbringen?
Wichtig sind Integrations- und Motivationsfähigkeit, sowie Durchsetzungsvermögen und eine hohe Frustrationstoleranz. Senior-Experten müssen von heute auf morgen mit eingespielten Organisationen zusammenarbeiten. Der Spezialist muss sich schnell integrieren und seine Mitstreiter auf den Lösungsweg mitnehmen können. Durchsetzungsvermögen muss man vor allem gegenüber der Unternehmenshierarchie beweisen. Egal welche Aufgabe zu erledigen ist: Experten brauchen Handlungsfreiraum, um Veränderungen anzustoßen und umzusetzen. Sie können nach erfolgreicher Beendigung einer Task-Force auch die geltenden Spielregeln und eingefahrenen Prozesse überprüfen und die sogenannten „lessons learned“ vermitteln. Auch das kann von großem Nutzen für den Auftraggeber sein.

Und die Frustrationstoleranz...
Senior-Experten müssen keinem anderen mehr etwas beweisen, sie wollen sich beweisen! Ein engagierter Experte gibt deshalb nie auf. Hindernisse schrecken ihn nicht ab. Sie beflügeln ihn.

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