Fachbeiträge

Ausgabe 2 / /2012
Fachbeitrag Demografie

Wissensmanagement im Tierreich

von Ronny Graf

Der moderne Mensch entwickelte sich erst vor etwa 300.000 Jahren und ist somit jünger als der Regenwurm, mit dem er fast 40 Prozent seiner DNS teilt. Mit Hühnern haben wir 60, mit Mäusen sogar 80 Prozent unserer DNS gemeinsam. Unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, ähneln uns in ihrer DNS bis zu 99,2 Prozent. Dennoch hat es der Mensch bis ganz nach vorne an die Spitze der Evolutionspyramide geschafft. Warum? Waren der Erwerb, der Umgang und die Weitergabe von Wissen das Mittel zum Erfolg?

Inhaltsübersicht:


In den Anfängen der Verhaltensforschung galt das Erkennen des eigenen Ichs als Mindestvoraussetzung für Intelligenz und das gezielte Anwenden von Wissen. Später kamen weitere Merkmale wie Mitgefühl, Kooperationsfähigkeit oder die Befähigung, Werkzeug zu gebrauchen und Probleme zu lösen, hinzu. Die Forscher fanden bei ihren Versuchen heraus: Tiere leisten Erstaunliches. Und doch ist ihnen der Mensch einen Schritt voraus. Was lief bei der Entwicklung zum homo sapiens anders als im Tierreich?

Der amerikanische Psychologe Gordon Gallup entwickelte 1970 den sogenannten Spiegeltest, um die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen, bei Tieren zu testen. Dazu malt man dem Tier einen Punkt ins Gesicht, den es nicht direkt betrachten kann. Dann lässt man es in den Spiegel schauen. Versucht das Tier, den Fleck abzuwischen, kann man davon ausgehen, dass es verstanden hat: „Das bin ja ich im Spiegel!“. Diesen Versuch bestanden Schimpansen, Orang-Utans, Krähenvögel sowie Zahnwale. Elefanten bestanden ihn nur teilweise, Gorillas und Hunde gar nicht. [1]

Da ein wichtiges Kriterium für die Herausbildung von sozialen Gesellschaften darin besteht, Eigenschaften von Artgenossen zu erkennen und Emotionen zu interpretieren, reichte die Selbsterkenntnis als Alleinstellungsmerkmal für die menschliche Intelligenz bald nicht mehr aus. Nun wurde das Mitgefühl, also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und deren Handeln vorauszusehen, zu einer wichtigen menschlichen Leistung. Aber auch auf diesem Gebiet zeigten sich einige Tiere erstaunlich geschickt.
Am Konrad-Lorenz-Institut in Wien wurden Raben einem Test unterzogen, dem die Eigenschaft zu Grunde lag, dass Raben ihre Nahrung verstecken. Die beiden Raben, die an dem Versuch teilnahmen, befanden sich in zwei Nebenkäfigen. Der eine Rabe konnte den Wissenschaftler beobachten, wie er Nahrung auf einer Anlage versteckte. Anschließend ließ der Wissenschaftler den zweiten Raben, der das Verstecken der Nahrung nicht beobachten konnte, auf die Anlage. Danach befreite er den ersten Raben aus seinem Käfig. Der erste, der das Verstecken beobachtet hatte, begab sich direkt zu einer von der Nahrung weit entfernten Stelle und begann dort zu suchen. Als der zweite Rabe ebenfalls begann, sich an dieser Stelle umzusehen, wendete sich der erste Rabe ab, ging zum eigentlichen Versteck und holte sich die Nahrung. Offenbar wusste er, dass sein Konkurrent nichts gesehen hatte. Er kann sich also in den anderen Raben hineinversetzen, um sich beispielsweise einen Nahrungsvorteil zu verschaffen. [2]

In einer Forschungsstation in Uganda wurde die Kooperationsfähigkeit von Schimpansen untersucht. In einem Experiment legte eine Verhaltensforscherin ein langes Brett vor einen geteilten Schimpansenkäfig. Auf diesem befestigte sie zwei Schalen und füllte sie mit Futter. Mit einem Seil ließ sich das Brett heranziehen, allerdings nur wenn zwei Schimpansen gemeinsam am Seilende zogen. Die Schwierigkeit bestand aber darin, dass ein Schimpanse erkennen musste, dass er einen Partner dazu braucht und diesen zusätzlich aus dem anderen Käfig befreien musste. Der Versuch zeigte: Beide Schimpansen arbeiteten zusammen. In einem weiteren Experiment wurde eine Schüssel mit zwei Bananenstücken gefüllt. Auch bei diesem Versuch funktionierte die Kooperation, allerdings schnappte sich der dominantere Partner das Futter ohne zu teilen. Anschließend verweigerte der schwächere Schimpanse die Kooperation, weil er wusste, dass er nichts von der Belohnung abbekommen würde.

Mehrere Handlungsalternativen entwickeln

Eine weitere typisch menschliche Fähigkeit in der Wissensverarbeitung ist das Lösen von Problemen. Am Max-Planck-Institut in Leipzig wurde diese Fähigkeit an Kindern und an Menschenaffen getestet. So galt es, eine schwimmende Erdnuss aus einem Rohr herauszufischen. Das Rohr war so eng, dass man nicht hineingreifen konnte, doch stand in der Nähe ein Gefäß mit Wasser. Wenn man dieses Wasser in das Rohr gießt, schwimmt die Erdnuss nach oben und lässt sich entnehmen. Das Ergebnis des Versuchs: Kinder zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr konnten das Problem nicht lösen. Erst ein achtjähriges Kind erkannte den Zusammenhang zwischen Rohr und Wassergefäß. Derselbe Versuch wurde mit Orang-Utans durchgeführt. Sie lösten die Aufgabe problemlos, genauso wie alle anderen Menschenaffen. [3] Der erste, der dieses intelligente Verhalten der Tiere nachwies, war der Psychologe Wolfgang Köhler. Bereits 1914 machte er Versuche zum Thema. Er hängte eine Banane in einem Käfig voller Schimpansen so hoch, dass die Affen sie nicht erreichen konnten. Die Aufgabe war nur zu lösen, wenn die Tiere Kisten, die zuvor in den Käfig gelegt wurden, stapelten. Als die Schimpansen dies tatsächlich taten, definierte Köhler den Begriff „Intelligenz“ folgendermaßen: „Wenn ein Mensch oder ein Tier ein angestrebtes Ziel nicht auf einfachem Wege erreicht, aber die Umstände eine Alternative offenlassen und das Tier oder der Mensch diesen Umweg erkennt und einschlägt.“ [4]

Mit Hilfsmitteln zum Ziel

Zur selben Zeit wies Köhler, als erster Wissenschaftler, den Gebrauch und die Herstellung von Werkzeugen bei Tieren nach. In seinem Experiment wurden Bananen außerhalb des Käfigs und der Reichweite der Schimpansen ausgelegt. Die Affen mussten nun unterschiedlich langen und dicken Bambusstangen ein Gerät zusammenbauen, damit sie die Banane erreichen konnten. Die Schimpansen steckten die Stangen problemlos ineinander und lösten die Aufgabe. [5]

Auch bei Vögeln lässt sich der Gebrauch von Werkzeug beobachten. Vögel benutzen dünne Zweige, um Maden oder Raupen aus Astlöchern zu entfernen. Ein Experiment zeigt, wie groß das Verständnis für den Werkzeuggebrauch ist: Ein Eimer mit einer Made darin wurde in ein Röhrchen gelassen. Ein Rabe konnte den Eimer nicht mit dem Schnabel herausziehen, sondern nur mit einem Draht. Das Bemerkenswerte: Der Rabe wusste sofort, an welcher Stelle er den Draht zu einem Haken biegen musste, um den Eimer aus dem Röhrchen zu ziehen. [6]

Im Tierreich werden auch noch andere Werkzeug benutzt. So verwenden Seeottern an der nordamerikanischen Pazifikküste Steine zum Öffnen von Muschelschalen. Sie legen die Muschel auf den Bauch und schlagen solange mit einem Stein darauf bis sie aufbricht.

Planungsfähigkeit und Tradition

Dass Orang-Utans auch planerische Fähigkeiten haben, wurde am Max-Planck-Institut in Leipzig nachgewiesen. Die Wissenschaftler hängten in einem Käfig eine Banane auf. Der zu testende Menschenaffe konnte sie aus seinem Käfig nur mit Hilfe eines Werkzeugs erreichen, was er auch tat. Am nächsten Tag wurde wieder eine Banane außerhalb des Käfigs befestigt. Als der Affe dieses Mal aus dem Experimentierkäfig kam, nahm er sein Werkzeug mit und verstaute es in seinem eigenen Käfig an einem sicheren Ort, um es künftig wieder zu benutzen. Das Ergebnis zeigt: Menschenaffen können vorausplanen, allerdings nicht länger als 14 bis 18 Stunden.

Erst die Fähigkeit des Menschen langfristig vorauszuplanen, ermöglicht die Bildung von Sitten und Gebräuchen. Doch selbst diese Veranlagung findet man auch bei den Tieren.

Der Affenforscher Masao Kawai beobachtete 1953 wie Japanmakaken auf einer Insel ihre Lebensformen an Artgenossen weitergaben. Täglich bekamen die Affen Süßkartoffeln. Einmal wusch ein älteres Weibchen zufällig eine mit Sand bedeckte Kartoffel ab. Nach einiger Zeit ahmten auch die restlichen Gruppenmitglieder dieses Verhalten nach. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde das Abwaschen weiter ans Meer verlegt, wo sie wahrscheinlich die Kartoffeln auf Grund des Salzgeschmackes ins Wasser tauchten. Vorreiter war auch hier wieder das ältere Weibchen. Mit der Zeit verloren die sonst so wasserscheuen Affen ihre Angst vor dem Meer und fraßen auch Algen. Dieses Verhalten wurde von Generation zu Generation weitergegeben und die Makaken gingen immer tiefer ins Wasser hinein: Sie lernten sogar schwimmen und tauchen. Schließlich begannen die Japanmakaken eine weitere Insel zu besiedeln. [7]

Bewusstes Umweltverständnis

Um zu beweisen, dass der Mensch Technologien entwickeln kann, weil er die Naturgesetze versteht, unterzogen Forscher an der University of Louisiana at Lafayette Menschen und Tiere einem Physiktest. In dem Versuch lernten Kinder und Schimpansen, L-förmige Bauklötze auf den Kopf zu stellen, eine Tätigkeit, die eine gute Feinmotorik voraussetzt. Im zweiten Teil dieses Experiments tauschten sie einen Klotz aus. Der neue Baustein war am kürzeren Ende schwerer und konnte folglich nicht stehen bleiben. Der Schimpanse probierte es trotzdem immer wieder. Er versuchte sogar, die Klötze aneinander zu stellen. Aber er drehte den Baustein nicht um, um herauszufinden, weshalb der Klotz nicht stehen blieb. Auch die Kinder versuchten am Anfang den Baustein zum Stehen zu bringen. Allerdings begriffen sie recht schnell, dass mit dem Klotz etwas nicht stimmte und begannen ihn zu untersuchen.

Folglich weiß der Mensch nach einigen gescheiterten Versuchen instinktiv, dass es ein Problem gibt und versucht den Grund dafür herauszufinden. Menschenaffen scheinen diesen zweiten Schritt nicht zu gehen. Dies bedeutet, dass bei den Vorfahren des Menschen ein Quantensprung in der Verarbeitung von Wissen stattgefunden hat: Er begann sich Fragen zu stellen und „um die Ecke“ zu denken.

Gedächtnisweltmeister Schimpanse

Verhaltensbiologen untersuchten am Primate Research Center in Kyoto die Gedächtnisleistung von Schimpansen. Dazu entwickelten sie einen speziellen Gedächtnistest, bei dem Zahlen von eins bis neun in wahlloser Reihenfolge auf einem Touchscreen dargestellt wurden. Der Affe sollte die Zahlen hintereinander berühren. Im nächsten Schritt verdeckten die Versuchsleiter die Zahlen, sobald der Schimpanse die „1“ anfasste. Er musste sich folglich an die Positionen der Zahlen erinnern. Der Test ergab: Der Schimpanse konnte sich die Zahlen in 0,65 Sekunden einprägen. Menschen hingegen benötigen für den Test deutlich mehr Zeit. Mit diesem Experiment zeigten die Wissenschaftler, dass das Gedächtnis der Schimpansen dem der Menschen überlegen ist. [8]

Evolution durch Genmutation

Den Sprung an die Spitze der Entwicklungspyramide schaffte der Mensch durch eine kleine Genveränderung, die eine Umwandlung in der Kiefermuskulatur hervorrief: Die starren Kiefermuskeln, die zum Kauen von harten Pflanzen oder rohem Fleisch gut geeignet waren, bildeten sich zurück. Weil sich die schwache Kaumuskulatur weniger an den Schädelknochen rieb, wie es heute noch bei den Menschenaffen geschieht, konnte sich das menschliche Gehirn besser ausbreiten. So lernte der Mensch komplexe Probleme zu lösen oder seine Umwelt zu verstehen. Ob der Mensch das schlauste „Tier“ ist, kann jedoch allein durch die Denkleistung nicht gemessen werden. Immerhin hat er gelernt, die Welt nach seinen Vorstellungen zu verändern.

Anmerkungen:
[1] „Intelligenzbestien – Müssen wir unser Verständnis von Tieren überdenken?“aus der Reihe hitec, Sender: 3sat, Erstausstrahlung: 23.12.2009, Mediathek: www.3sat.de
[2] „Kluge Vögel – Die Kopfarbeiter“ aus der Reihe „Abenteuer Erde“, Sender: WDR, Erstausstrahlung: 28.10.2009, Mediathek: www.3sat.de
[3] Siehe bei youtube unter „unterschied affe mensch 03 10“
[4] wkprc.eva.mpg.de/deutsch/files/wolfgang_koehler.htm (Zugriff 06/2011)
[5] Siehe bei youtube unter: „Chimp, tool useage“ „Schimpanse Werkzeug“, „Sea otter using tool“
[6] Siehe bei youtube unter „Rabe Intelligenz“, „Rabe mit Werkzeug“
[7] Siehe bei youtube unter: „Terra X Supertiere - Die Cleveren “
[8] „Unterschied Affe zum Menschen“, Dokumentation der BBC, Sender: N24, Erstausstrahlung: 2010, www.youtube.com Titel als Suchbegriff

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