Artikel-Archiv

5/2012
Kolumne Kolumne

Auch die Frucht der Erkenntnis braucht Zeit zum Reifen

von Gabriele Vollmar

Bei den 1. Kremser Wissensmanagement-Tagen vom 8. bis 9. Mai 2012 (übrigens eine rundum lebendige und inspirierende Veranstaltung) hat Prof. Dr. Roland Maier von der Universität Innsbruck den interessanten Begriff der „Wissensreifung“ in die Diskussion gebracht.

Bei den 1. Kremser Wissensmanagement-Tagen vom 8. bis 9. Mai 2012 (übrigens eine rundum lebendige und inspirierende Veranstaltung) hat Prof. Dr. Roland Maier von der Universität Innsbruck den interessanten Begriff der „Wissensreifung“ in die Diskussion gebracht.

Dieser Begriff und das dahinter stehende Bild haben mich spontan an die ersten Jahre meiner Tochter an einer Waldorfschule erinnert: Dort gibt es den so genannten Epochenunterricht, d.h. sechs Wochen lang wird im Hauptunterricht ausschließlich das Lesen und Schreiben geübt, anschließend sechs Wochen lang das Rechnen und dann wieder Lesen und Schreiben usw. Zu Anfang war meine Sorge, dass es doch gerade in den ersten Jahren ein Fehler sein könne, eine wesentlich neue geistige Tätigkeit wie das Lesen während langer sechs Wochen scheinbar wieder zu verlassen, anstatt es permanent zu üben. Würde das den Lernprozess nicht stören und in der Folge verlangsamen? Das Gegenteil war der Fall: Es schien, als reife das Gelernte während dieser scheinbaren Ruhephasen im Geist meiner Tochter, sodass der Wiedereinstieg nach sechs Wochen nicht nur auf demselben Niveau stattfand, sondern auf einem wahrnehmbar höheren. Während dieser Zeit scheint sich das Gelernte gleichsam unbewusst und ungelenkt weiterentwickelt zu haben – es ist gereift.

Lassen Sie uns dieses Bild der „Wissensreifung“ weiterspinnen, indem wir uns fragen was eigentlich den der Metapher zugrundeliegenden Prozess d er Reifung in seiner ursprünglichen Bedeutung als biologischen Vorgang auszeichnet?

Reifung braucht Zeit. Reifung kann nur eingeschränkt und nur indirekt über die Veränderung von Rahmenbedingungen beeinflusst und ggf. beschleunigt werden. Eine (übertrieben) beschleunigte Reifung erzielt am Ende nicht unbedingt den optimalen Reifegrad. Es gibt einen idealen Endzeitpunkt der Reife, der überschritten wird, wenn er nicht genutzt wird. Reifung kann nicht angehalten, unterbrochen oder dauerhaft gestoppt werden.

Was heißt das übertragen auf eine Frucht „Wissen“, die am Ende eines Reifungsprozesses geerntet werden soll? Braucht auch Wissensreifung Zeit? Und wenn ja, was bedeutet das bei sich immer weiter verkürzenden Innovationszyklen und abnehmender Halbwertszeit von Wissen? Haben Wissensmanager eine Aufgabe, Wissensreifung zu unterstützen und ggf. zu beschleunigen? Und wenn ja, wie? Wirkt sich die zunehmende Wissensdynamik negativ auf die Wissensreife und damit -qualität aus? Wie erkennen wir den optimalen Reifegrad und damit „Erntezeitpunkt“ einer Wissensfrucht? Kann auch eine einmal in Gang gesetzte Wissensreifung nicht mehr gestoppt werden? Welche (moralischen und ethischen) Verpflichtungen ergeben sich daraus?

Wenn wir den Prozess der Wissensreifung als etwas dieser Ressource und ihrer Nutzung inhärentes verstehen, so wirft dies zahlreiche weitere Fragen auf. Es macht auch deutlich, dass Innovationsmanagement und Wissensmanagement unbedingt zusammengehören und eine Trennung dieser beiden Disziplinen, wie sie heute in den meisten Unternehmen herrscht, eine künstliche ist. In der letzten Ausgabe der wissensmanagement hat Prof. North die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von Berufsbildern für Wissensmanager vorgestellt. Dabei wurde deutlich, dass der Wissensmanager in der Regel keine Rolle im Innovationsmanagement spielt, sondern seine Hauptaufgabe eher in der „Bestandsverwaltung" gesehen wird. Das deckt sich mit einer Beobachtung, die ich immer wieder bei den Studenten im Modul „Wissensmanagement“ beim Masterstudiengang Educational Media der Universität Duisburg Essen mache: Bei der Beschäftigung mit dem Probst/ Romhardtschen Bausteinemodell wird der erste der operativen Bausteine, die Wissensidentifizierung, fast immer gleichgesetzt mit der Analyse des im Unternehmen vorhandenen Wissens. Das lässt aber die enge Beziehung dieses Bausteins mit dem strategischen Baustein der Wissensziele außer Acht. In Bezug auf diesen Baustein ist die Wissensidentifikation auch zu verstehen als grundsätzliche Frage nach demjenigen Wissen, das zur Erreichung der definierten Ziele für notwendig erachtet wird. Erst im nächsten Schritt geht es dann darum, herauszufinden, was und wie viel davon heute schon in der Organisation vorhanden ist. Und was eben fehlt und daher entwickelt werden muss (inklusive der angemessenen Reifung).

Vielleicht sollten wir uns als Wissensmanager selbst wieder stärker auf die linke Hälfte (Identifizieren, Entwickeln, Erwerben im Bausteinkreislauf konzentrieren und uns nicht auf die rechte (Teilen, Nutzen, Bewahren) reduzieren lassen!


Diesen Artikel als PDF herunterladen

Unsere Empfehlungen