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6/2006
Editorial Wissensmanagement

Wissensmanagement und Philosophie

von Georg Simet

Schon seit längerem ist in den fachwissenschaftlichen Diskussionen viel vom integrativen Ansatz die Rede. Die zunehmende Spezialisierung und Ausdifferenzierung unter dem wissenschaftlichen Ideal "clare et distincte" [1] führt uns Abendländer weiterhin und immer mehr in das Paradox, dass wir uns immer weiter spezialisieren und damit unser Blickfeld immer weiter einengen. Im Gegenzug wissen wir von dem Wenigen, das wir als Experten wissen, immer mehr.

 

Schon seit längerem ist in den fachwissenschaftlichen Diskussionen viel vom integrativen Ansatz die Rede. Die zunehmende Spezialisierung und Ausdifferenzierung unter dem wissenschaftlichen Ideal "clare et distincte" [1] führt uns Abendländer weiterhin und immer mehr in das Paradox, dass wir uns immer weiter spezialisieren und damit unser Blickfeld immer weiter einengen. Im Gegenzug wissen wir von dem Wenigen, das wir als Experten wissen, immer mehr. Um dies zu überwinden, bedürfen wir des Korrektivs, des (integrierenden) Blicks über die Fachgrenzen hinweg auf Ganzheitlichkeit hin.

 

Die drei Wissenskomponenten

Der Begriff Wissenschaft hat dem Wort nach zwei Teilkomponenten: das Wissen als Objekt und das Schaffen als Handlung. Darüber hinaus klingt implizit noch eine weitere, dritte Teilkomponente mit an: Wenn es ein Objekt, das Wissen, gibt, muss es auch ein Subjekt geben, das das Wissen schafft - nämlich all diejenigen, die Wissen schaffen.

 

Wissenskomponente 1: Das Wissen

Der Begriff Wissen bezeichnet das Woraufhin der Handlung: Die Wissenschaft strebt danach, Wissen zu schaffen. Die folgenden fünf Charakteristika sind wissensspezifisch:

• Wissen ist immer Wissen über etwas: Wissen weist immer über sich hinaus, bezieht sich immer auf etwas, worüber Wissen erworben werden soll. Ohne vorab geklärt zu haben, worüber Wissen geschaffen werden soll (pro-aktiv) bzw. geschaffen wurde (re-aktiv), ist die Handlung des Wissenschaffens sinnlos.

• Es gibt sowohl bewusstes als auch nicht-bewusstes Wissen: Eine Hirnaktivität, die nicht mindestens 100 Millisekunden lang andauert, bleibt unbewusst. [2] Das Gehirn nimmt Informationen über die Welt zumeist im Verborgenen auf und entscheidet vorwiegend instinktiv nach dem Grad der Bewährung. [3]

• Erkenntnisquelle ist das Bewusstsein: Über alle Vorgänge, sowohl bewusste als auch unbewusste, erlangen wir nur über das intentionale Bewusstsein Kenntnis, indem wir unser Augenmerk auf sie richten. [4]

• Bewusstes Wissen ist eine Aussage, die wahr ist: Am altgriechischen Wahrheitsbegriff orientiert, bedeutet Wahrheit schaffen so viel wie "das Seiende, wovon die Rede ist, aus seiner Verborgenheit herausnehmen und es als Unverborgenes sehen lassen". [5] Wissen ist demnach ein Erfolgsbegriff. [6] Wissen zeigt an, ob und inwiefern das Vorhaben des Entdeckens gelungen ist.

Das Kriterium der Beurteilung hierfür liefert in der abendländischen Tradition folgendes Prinzip: etwas auf etwas anderes (gesetzmäßig) zurückzuführen. Vom Entdecken zu unterscheiden, ist das Erfinden. Eine Erfindung zielt auf das Schaffen von etwas (als Mittel) zum Zweck (eines Nutzens) für jemanden.

• Wissen ist perspektivisch. Ein Baum sieht von Punkt A anders aus als von Punkt B, im Winter anders als im Sommer. Ein Kind nimmt Gegenstände anders wahr als ein Erwachsener. Je nach dem, was man entdecken will, kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen. [7]

 

Wissenskomponente 2: Das Schaffen

Das Verb "schaffen" ist ein transitives Verb. Lat. trans-ire bedeutet "hinüber-gehen". Vom jeweiligen Ausgangspunkt soll auf ein Objekt, das noch zu Schaffende bzw. das bereits Geschaffene, zugegangen werden. Der Weg, der zurückzulegen ist, um ein Ziel zu erreichen, wird mit griech. methodos bezeichnet. Der Weg des Schaffens von Wissen führt von bereits Bekanntem und Entdecktem zum Unbekannten und noch zu Entdeckenden.

Schaffen ist immer auch ein kreativer Akt. Der Grad der Kreativität bemisst sich daran, inwiefern das Neue von dem, was zuvor bereits geschaffen war, also vom Alten, abweicht. Schaffen heißt: entweder etwas von Neuem machen (kopieren) oder etwas innovativ zu verändern bzw. herzustellen, was völlig neu und revolutionär ist.

 

Wissenskomponente 3: Das Subjekt

Keine Tätigkeit ohne Subjekt. Das Schaffen von Wissen benötigt einen Akteur. Dieser Akteur ist der einzelne Wissenschaffende bzw. die Gemeinschaft der Wissenschaffenden (Scientific Community).

Wissen ist eine individuelle und eine gemeinschaftliche Leistung. Das Schaffen von Wissen ist jeweils die Leistung eines Einzelnen. Eine Wissensgemeinschaft kann nur Wissen aufbauen, sofern die Teilnehmenden miteinander kommunizieren und ihr individuelles Wissen austauschen. Diesen Austauschprozess müssen sie in einem möglichst herrschaftsfreien Diskursrahmen anlegen und pflegen. Denn nur ein solcher Rahmen gewährleistet eine vorurteilsfreie Erweiterung und Vertiefung von Wissen. [8]

Das Subjekt muss kritikfähig sein. Kritikfähigkeit setzt Unvoreingenommenheit voraus. Diese ist vielen Experten als Lobbyisten ihres eigenen Standpunkts jedoch oft fremd. [9] Da niemand standortunabhängig, sondern nur perspektivisch urteilen kann, gilt: Je mehr der zur Beurteilung wichtigen Standpunkte berücksichtigt werden, desto unvoreingenommener wird der Blick und desto umfassender die Erkenntnis.

 

Hirnphysiologische Restriktionen

Aus dem bereits Gesagten ergibt sich folgender Zusammenhang: Die Intentionen, Wissen zu erlangen und mit Wissen zu arbeiten, sind zwar Leistungen des jeweiligen Subjekts, ereignen sich aber in der Dimension der intersubjektiven Sinnverständigung. [10] Dieses Grundkonzept soll im Weiteren unter Bezug auf neuere Erkenntnisse der Klinischen Neurophysiologie vertieft werden. Dabei zeigt sich exemplarisch, wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse das philosophische Wissensverständnis grundlegend fundieren.

Unser Gehirn konstruiert die Welt. Unser Weltverständnis ist zum einen von der genetisch vorgegebenen Grundverschaltung der Nervennetze und den dadurch festgelegten Antworteigenschaften der einzelnen Nervenzellen abhängig. [11] Wie psychophysische Experimente zeigen, richtet sich die innere Aufmerksamkeit auf ein Ziel, bevor die Augen sich dorthin bewegen, und bevor uns dies bewusst wird. [12] Das Gehirn - und nicht nur das Bewusstsein - operiert also intentional, verschaltet die Nervennetze zielgerichtet.

Zum anderen ist unser Weltverständnis aber immer auch re-konstruktiv, insofern die "Gestaltkriterien für die Gruppierung von Merkmalen [...] durch Erfahrung modifiziert werden können". [13] Kohärenz und Kontinuität sind Kategorien, nach denen unser Gehirn die sinnlichen Daten als eine Welt aus Objekten und Objektgruppen (Ensembles) vorstrukturiert.

 

Wissenschaft und Wissensmanagement

Philosophisch gesehen ist Wissen also ein intentional entdecktes bzw. zu entdeckendes und mittels Sprache intersubjektiv begründetes Verständnis über raum-zeitliche Objektzusammenhänge. Dieses relationale Gefüge bildet den Rahmen für alle Wissensprozesse. Da uns aber nicht das Schaffen von Wissen interessiert, sondern das Managen von Wissen, muss der vorgestellte Rahmen unter dieser Rücksicht neu justiert werden.

 

Das Managen von Wissen

Managen bedeutet zum einen, etwas zu bewirken oder herbeizuführen, und zum anderen die Leitung oder Verantwortung zu übernehmen. Das Managen von Wissen ist folglich instrumental intendiert. Das Wissen ist nicht Selbstzweck - wie im Wissenschaftsprozess -, sondern Mittel zum Zweck.

Der Zweck jedes Unternehmens ist letztendlich der eigene Erfolg. Denn vom Erfolg hängt nicht nur die gegenwärtige Existenz, sondern auch die Zukunft des Unternehmens ab. Zweck des Managements ist also der Unternehmenserfolg bzw. seine Steigerung. Das Wissen kann hierzu unter dem Aspekt seiner Brauchbarkeit beitragen. Evolutionärer Erfolg wird nach rein pragmatischen Kriterien erzielt. [14] Wissen kann umso brauchbarer sein, je mehr es zu einem eigenständigen Produktionsfaktor wird. Schon vor knapp 30 Jahren prognostizierte Lyotard "die Merkantilisierung des Wissens", d.h. dass das Wissen für seinen Verkauf geschaffen und zur Verwertung in der Produktion konsumiert werden wird. [15] Die Ursache hierfür sah er in der zunehmenden Informatisierung der Gesellschaft. [16] Denn die Intention, den Informationsaustausch so weit möglich orts- und zeitunabhängig zu organisieren, ermöglicht und verstärkt den Prozess der Raumschrumpfung oder der Zeit-Raum-Kompression in allen Gesellschaftsbereichen. [17]

 

Fazit

Für das Unternehmen ergeben sich aus interdisziplinärer Sicht die folgenden Handlungsempfehlungen. Erstens: Wissen braucht Freiraum. Da die Wissensaustauschprozesse desto effizienter sind, je herrschaftsfreier die Experten sie organisieren können, muss das Unternehmen den Spielraum und die Spielregeln festlegen und die entsprechende Freiheit zur Selbstorganisation gewährleisten. [18] Zweitens: Wissensmanagement ist aufgabenbezogen. Immer dann, wenn eine Aufgabenstellung so komplex ist, dass mehrere Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen für dieses eine Ziel zusammenarbeiten, macht der Einsatz von Wissensmanagement Sinn. Drittens: Wissensmanagement sollte ereignisgesteuert erfolgen. Es ist Aufgabe der Unternehmensführung zu entscheiden, inwieweit bestimmte Projekte die funktionalen Hierarchien einschränken dürfen. Für die Systematisierung, Planung und Steuerung von Aufgaben hat sich ein ereignisgestütztes Modellierungsverfahren bewährt. [19]

 

Literatur

[1] R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, III.

[2] Siehe: B. Libet: Mind Time, Cambridge u. London 2004, S. 33-89.

[3] Siehe: W. Singer: Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt a. M. 2002, insbes. S. 139 u. 171.

[4] Siehe: H. Schwegler: Reduktionismen und Physikalismen, in: M. Pauen u. G. Roth (Hrsg.): Neurowissenschaften und Philosophie, München 2001, S. 79.

[5] M. Heidegger, Sein und Zeit, ¤ 7 B.

[6] Siehe: M. Vogel u. L. Wingert: Einleitung zu: Dies. (Hrsg.): Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion, Frankfurt a. M. 2003, S. 15.

[7] Siehe: J. Funke: Wenn Blicke sprechen, in: Ruperto Carola, 2006, Nr. 1, S. 7.

[8] Siehe: Th. S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, 72.14.203.104/search= cache:XceWVFnBb3QJ:www.des.emory.edu/mfp/kuhnsyn.html+%22Scientific+Community%22+kuhn&hl=de&gl=de&ct=clnk&cd=4.

[9] Siehe u. a.: Platon: Sokrates' Apologie, 21 d. u. 22 c/d.

[10] K.-O. Apel: Die Erklären:Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt a. M. 1979, S. 338.

[11] W. Singer, a. a. O., S. 119.

[12] G. Roth: Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewusstsein, in: M. Pauen u. G. Roth, a. a. O., S. 195.

[13] W. Singer, a. a. O., S. 162.

[14] G. Vollmer: Wieso können wir die Welt erkennen?, Leipzig 2003, S. 67.

[15] J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen, Kap. 1.

[16] Siehe: Eb., Kap. 2.

[17] H. Rosa: Beschleunigung, Frankfurt a. M., 2005, S. 164.

[18] Siehe: W. Singer, a. a. O., S. 169 f.

[19] Siehe: A. W. Scheer: ARIS-Modellierungsmethoden, Metamodelle, Anwendungen, Berlin u. a. 3. Aufl. 1998.


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