2019/7 | Fachbeitrag | Digitale Transformation

Digital Recruiting im Mittelstand: Welche Tools nutzen, welche vergraulen Kandidaten?

von Marc-Stefan Brodbeck

Inhaltsübersicht:

Schnell und zuverlässig immer genau die richtigen Bewerber gewinnen und auswählen – und das bei geringstmöglichem Zeit- und Kostenaufwand sowie auf Basis klarer Prozesse: Das ist das große Versprechen der Digitalisierung im Recruiting. Immer mehr geht es dabei nicht nur um das Ziel, Personalabteilungen von Routinearbeiten zu entlasten oder präzise über Kennzahlen wie Time to Hire oder Cost per Hire zu steuern. Mit den stetig wachsenden Fähigkeiten künstlicher Intelligenz wächst auch die Hoffnung, limitierende Faktoren auf HR-Seite zu umgehen. Das können unbewusste Vorurteile bei der Personalauswahl (z. B. Unconscious Bias, Halo-Effekt), eigene blinde Stellen oder persönliche Schwachpunkte sein.

Lösungen müssen zum Unternehmen und zu den eigenen Werten passen

Auf der anderen Seite lohnt es sich gerade für mittelständische Unternehmen, vor der Entscheidung für digitale Tools und Anwendungen über einige grundlegende Fragen nachzudenken. Denn was für ein international geprägtes IT-Unternehmen mit hochmoderner Arbeitskultur und entsprechender Bewerbermentalität im Recruiting genau das Richtige sein kann, erweist sich mitunter bei einem konservativen Arbeitgeber als Störfaktor. Ebenso eine Rolle spielt die Nachfrage seitens potenzieller Arbeitnehmer. Wer pro Jahr über Hunderte Bewerbungen erhält, hat einen anderen Digitalisierungsbedarf als ein kompaktes Unternehmen mit niedriger Fluktuation und personell gut ausgestatteter HR-Abteilung. Der Einsatz moderner und positiv erlebter digitaler Tools kann auch zu einem Bruch führen, wenn die restliche Unternehmenskultur noch ebenso analog wie hierarchisch ist. Auch die eigene Haltung spielt eine Rolle: Wie stehen wir selbst – als Unternehmen, als Geschäftsleitung, als Personalverantwortliche – zum digitalen Recruiting? Wo sind für uns die Grenzen? Und wo bei den Menschen, die wir als Mitarbeiter und Führungskräfte gewinnen wollen? Eine weitere Perspektive, die betrachtet werden sollte: Welche Botschaft senden wir mit welcher Maßnahme aus – und passt diese zu unseren Werten und zu denen unserer Zielgruppe? Zusätzliche Grenzen setzt häufig auch der Datenschutz mit seinen zunehmend strengeren Bestimmungen.

Große Bandbreite von etabliert bis Zukunftsmusik

Vor diesem Hintergrund lohnt sich zuerst eine Clusterung der angebotenen Lösungen, denn die Bandbreite ist größer denn je. Sie reicht von ausgereiften und bewährten Tools, die von gut automatisierbaren Routineaufgaben entbinden, bis zu Anwendungen, die sich oft noch in der Entwicklung befinden. Die Tools, die noch nicht vollkommen ausgereift sind, werden nur von wenigen, meist sehr innovativen Firmen eingesetzt – und sind dabei nicht selten strittig. Zur ersten Kategorie gehören zum Beispiel die eingangs genannten Applicant Tracking-Systeme (ATS-Systeme). Sie automatisieren wesentliche Elemente im gesamten Prozess vom ersten Kontakt mit einem Bewerber bis zur Einstellung. Intern vereinfachen Multiposting-Tools das Platzieren von Stellenanzeigen. Beides sind Beispiele für Anwendungen, die bedenkenlos sind und einen klaren Nutzen bieten.

Herausforderung Datenschutz

Mittelständische Unternehmen, die große Bewerbermengen verwalten müssen oder sich stärker als digitaler Trendsetter positionieren wollen, schauen sich vermehrt auf der nächsten Ebene um – dem Mittelfeld zwischen ausgefeilten Standardprodukten und Lösungen, die noch halb Zukunftsmusik sind. Hier rangieren etwa CV-Parsening-Tools zur automatischen Erfassung von Lebensläufen. Kalenderanwendungen sorgen dafür, dass langwieriges Hin und Her bei der Terminfindung entfällt. Stattdessen können Interessenten online aus einer Reihe eingestellter Termine auswählen, die automatisch bei allen Beteiligten gebucht sind. Tools für zeitversetzte Videointerviews (ZVI) ermöglichen ein schnelleres und einfacheres Durchführen von Interviews. Zudem erlauben solche Lösungen, dass die einzelnen Bewerter unabhängig und ohne von den Bewertungen der anderen Beobachter zu wissen, ihr Rating zu Kandidaten abgeben können.

Auf der anderen Seite stehen vor allem ZVIs beim Einhalten der aktuellen datenschutzrechtlichen Bestimmungen vor großen Herausforderungen. Daher ist es bei der Einführung von Tools dieser Art wichtig, nicht nur die Technik, sondern parallel auch ein eignungsdiagnostisches Methodenset einzuführen. Geschieht das nicht, können Video- oder Tonaufzeichnungen mehrmalig abgespielt werden. Unwichtige Details gewinnen dann möglicherweise an zu viel Bedeutung, was zu Fehlentscheidungen führen kann.

Die große Frage: Wo ist die Grenze, ab der das Risiko überwiegt?

Andere Chancen als auch Risiken erschließen Systeme, die mehr oder minder auf künstlicher Intelligenz basieren – auch wenn sich die meisten davon noch in der Entwicklung befinden. In der Praxis sind sie vor allem das Metier ausgeprägter Innovatoren unter den Arbeitgebern. Ein noch einfaches Beispiel dafür sind Chatbots: Digitale Roboter, die einen menschlichen Ansprechpartner imitieren. Interessenten können damit erste kleinere Gespräche führen. Entscheidend ist hier, dass nicht nur bei der Technik, sondern auch beim Content auf Qualität geachtet wird: Ein lieblos erstellter Chatbot, der nur Phrasen von sich gibt, vergrault eher gute Bewerber als dass er dazu beiträgt, die richtigen Leute zu gewinnen. Der Chatbot sollte daher inhaltlich überzeugen – in Form von Informationen mit Substanz und in stimmigem Wording. Auf einem ganz anderen Niveau arbeiten computergesteuerte Stimm- und Mimikanalysen: Ihr Versprechen lautet, Persönlichkeitsmerkmale und berufliche Eignung erkennbar zu machen. Entsprechende Softwarelösungen erstellen nach einem kurzen Telefonat eine umfangreiche Persönlichkeitsanalyse, die mit einem Soll-Profil angeglichen werden kann. Intensiv gearbeitet wird auch an Tools, die Social Media-Profile von Bewerbern automatisch screenen und analysieren – zwei Beispiele für den Einsatz von Technik im Recruiting, der für das Empfinden vieler Menschen zumindest im Grenzbereich liegt.

Vor der Einführung von KI Komponenten empfiehlt es sich allerdings, zuerst folgende strategische, technische und ethische Leitfragen für das eigene Unternehemen zu beantworten: Unterstützen die gewonnen Kenntnisse die Personal- oder Unternehmenstrategie? Hat die KI auf relevanten vergleichbaren Daten (z.B aus dem deutschprachigen Kulturraum) gelernt? Ergeben sich ethische Fragen aus dem Erkenntnispotential oder aus der Nutzung der im Bewerbungsprozess gewonnenen Daten? Erst wenn diese und weitere Fragen positiv beantwortet werden, ist es ratsam, mit einer Implementierung zu beginnen.

 

 

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