2017/8 | Fachbeitrag | Digitale Transformation

Auf dem Weg zur nachhaltigen Logistik 4.0

von Marco Englert, Prof. Dr. Roland Pfennig

Inhaltsübersicht:

Die Vision einer Wissens- und Informationsgesellschaft 4.0 zielt auf die Entstehung intelligenter Organisationen als Orte systemischer Kompetenz mit hoher Flexibilität. Intelligenz bedeutet dabei zu wissen, wann der Wandel nötig ist und diesen zu fördern, indem man Geschäftsmodelle, Fähigkeiten, Technologien, Systeme und Prozesse kennt, hinterfragt und innoviert. Es gibt hier kaum eine andere Managementdisziplin, die in den letzten Jahren eine derartig rasante Entwicklung erfahren hat, wie die Logistik. Eine Logistik 4.0 steht hier für die Vernetzung und Verzahnung von Prozessen, Objekten, Lieferkettenpartnern und Kunden und kann die Mitglieder einer Wertschöpfungskette und mehrere Wertschöpfungsketten zu einem Wertschöpfungsnetzwerk integrieren.

wm: Herr Englert, warum ist die Logistik eine zentrale Säule einer exzellenten Unternehmensführung?

Marco Englert: In der modernen VUKA-Welt sind Entscheidungen mit Blick auf den Vierklang aus wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer und technologischer Nachhaltigkeit erforderlich. Kaum eine andere Managementdisziplin hat in den letzten Jahren hier eine derartig rasante Entwicklung erfahren wie die Logistik. Sie hat sich als Querschnittsfunktion in den Führungsetagen als zentrale Säule einer exzellenten bzw. nachhaltigen Unternehmensführung etabliert. Das Thema der Neugestaltung von Wertschöpfungsprozessen bzw. Lieferketten und die damit verbundenen Lösungsansätze der Logistik sind zentral für die Entwicklung neuer Produkte, Services und Geschäftsmodelle. Durch die Digitalisierung und neue Informations- und Managementsystem eröffnen sich im Rahmen einer exzellenten Logistik völlig neue Möglichkeiten für intelligente und vernetzte Lösungen. Eine nachhaltige Logistik 4.0 zeichnet sich dadurch aus, dass Nachhaltigkeit und Digitalisierung bei fast allen logistischen Tätigkeiten Effizienz mit Ressourcenschonung verbindet.

wm: Herr Prof. Pfennig, welche Veränderungen bringt die neue Arbeitswelt 4.0 für die Mitarbeiter im Logistikmanagement und welche Aufgaben werden sie übernehmen?

Roland Pfennig: Die Logistik übernimmt bereits heute teilweise sogar die vollständige Prozesssteuerung in der Fertigung. Industrie 4.0 wird diesen Trend natürlich weiter fortführen. Alle wesentlichen Objekte entlang der Wertschöpfungskette erhalten eine eigene elektronische Identität und die Fähigkeit, mit anderen Objekten und Betriebsmitteln zu kommunizieren. Dies erfordert die intelligente Verknüpfung und das Management von immensen Datenmengen. Wir brauchen Mitarbeiter im Logistikmanagement, die ein ausgeprägtes Prozessverständnis, eine schnelle Auffassungsgabe, unbedingte IT-Affinität und eine grundständige Logistikausbildung haben.

Da einfache und einfachste Aufgaben immer mehr in die „Hände“ von Robotern und autonom fahrenden Systemen gelegt werden, wird sich der Headcount in diesem Bereich eher verringern. Viele Value Added Services können automatisiert durchgeführt werden – neben dem Kommissionieren, das optimale Palettieren, Verpacken, Aufbereiten, Verladen usw. Gefragt sind daher eher kunden- und mitarbeiterorientierte Leader denn klassische Manager. Da sich durch neue IUK-Technologien neue Geschäftsfelder entwickeln können, müssen Leader ein angemessenes Sensorium für Innovationen und die eigenen Möglichkeiten haben. Nun könnte man sagen, dass dies alles nicht wirklich neu ist, bei näherer Betrachtung stellt man aber fest, dass viele Unternehmen noch nicht mal die 3.0 Welt (Digitalisierung) erreicht haben und sich deshalb auch noch nicht mit 4.0 beschäftigen können.

wm: Wie sieht Ihre Vision für ein nachhaltiges Logistikmanagement 4.0 aus?

Pfennig: Wenn ich den Begriff Vision ernst nehmen darf, sieht ein nachhaltiges Logistikmanagement für mich so aus, dass es Services für nachhaltige Konsumenten bereitstellt. Davor muss erst mal in weiten Teilen ein Wandel in den Köpfen stattfinden. Wenn immer mehr konsumiert und somit produziert und transportiert werden soll, wird der ökologische Teil der Nachhaltigkeit in die Knie gehen müssen und die Idee verkommt zu einer hohlen Phrase, die bald niemand mehr ernst nimmt. Ein innovatives und reiches Land kann als gutes Beispiel voran gehen.

Einfache Routinetätigkeiten werden künftig von sensitiven Robotern übernommen, die mit Menschen Hand in Hand zusammenarbeiten. Auf den Menschen wird man auf absehbare Zeit nicht verzichten können, allerdings verändert sich die Art der Tätigkeit: Aus- und Weiterbildung werden noch wichtiger – und muss online und zu jeder Tages- bzw. Pausenzeit möglich sein. Die physische Belastung wird abnehmen, neuer psychischer Belastung muss durch entsprechende Maßnahmen wie moderne Führungskonzepte und Coaching vorgebeugt und damit dem sozialen Aspekt genüge getan werden.

Eine sinnhafte und der weiteren Rohstoffverschwendung vorbeugende Anwendung wird Big Data sein, da sich damit genauere Bedarfe und darauf basierende Aktivitäten ermitteln lassen. Die prophylaktische Sicherheitsbevorratung im Lager, an den Produktionseinheiten (versteckte Läger) und auf der Straße gehören der Vergangenheit an. Systematische Fehler in den Geschäftsprozessen werden in Echtzeit erkannt und es werden umgehend passende Lösungsvorschläge erarbeitet.

wm: Welche sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren für ein solches nachhaltiges Logistikmanagement 4.0?

Pfennig: Genaue Kenntnis der eigenen Prozesse und die Fähigkeit, schnell die Prozesse von Kunden zu verstehen. Unbedingte IT-Affinität und eine offen gestaltete IT-Systemlandschaft, die über möglichst standardisierte Schnittstellen mit Geschäftspartnern kollaborieren kann. Keine Angst vor der Cloud und stets aktuelle Sicherheitsvorkehrungen. Auch hier gilt: Lebenslanges Dazulernen; gegebenenfalls müssen Kooperationen mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen gepflegt werden.

Eines wird stets gleich bleiben: eine angemessene Kundenorientierung mit entsprechendem Verständnis für die Sorgen und Nöte, gepaart mit gutem betriebswirtschaftlichem Gespür. Nicht zuletzt natürlich eine glaubwürdige ethische Grundhaltung, die sich, verbalisiert in Unternehmensphilosophie und -leitbildern, positiv auf Unternehmenskultur und -image auswirken. Das Management muss Verantwortung für sein Tun übernehmen und lernen, mit widersprüchlichen Anforderungen umzugehen.

wm: Welche Rolle spielen hier neue Informationstechnologien bzw. -systeme?

Englert: Wenn man Logistik ganzheitlich denkt, dann ist der Informationsfluss genauso wichtig wie der Warenfluss. Durch die Digitalisierung und neue Informationstechnologien eröffnen sich hier völlig neue Möglichkeiten, welche die Basis für intelligente Logistiklösungen darstellen. Es entstehen digitalisierte, vernetzte Wertschöpfungsketten mit optimalen Warenflüssen und nachhaltigen Produktionsabläufen. Industrie 4.0 betrachtet vorwiegend die Integration industrieller Produktion, Logistik 4.0 die Integration von Prozessen mit Informations- und Kommunikationstechnologien. Es wird auch von „Digital Logistics“ gesprochen.

Logistik 4.0 steht also letztlich für die Vernetzung und Verzahnung von Prozessen, Objekten, Lieferkettenpartnern und Kunden durch IKT mit dezentralen Entscheidungsstrukturen, um Effizienz, zum Beispiel durch Transparenz, Automatisierung, Prozessgeschwindigkeit, Fehlerreduktion und Bündelung, und Effektivität, zum Beispiel durch Flexibilität und individualisierte Dienstleistungen, Prozesse und Produkte, zu erhöhen. Sie kann die Mitglieder einer Wertschöpfungskette (vertikal) und mehrere Wertschöpfungsketten zu einem Wertschöpfungsnetzwerk (horizontal) integrieren. Dafür sind vor allem durch Verträge abgesichertes Vertrauen und Transparenz notwendig.

IT wird daher der Enabler für die Logistik bleiben. Über viele Jahre hinweg haben sich beide Disziplinen parallel entwickelt, von der reinen TUL-Logistik (Transport – Umschlag – Lagerung), hin zu einem optimierten, globalen Netzmanagement, das in dieser Form nur durch IT möglich sein wird. Die Verbindung von intelligenten Objekten, die mit Sensorik ausgestattet sind, über Cloud Services, die Weiterentwicklung von Big Data zu echten Predictive-Analytics-Systemen, die Möglichkeit, nicht nur reagieren zu müssen, sondern komplexe Prozesse auch zu steuern, werden die Rolle der IT noch wesentlich bedeutender machen.

Da Logistik äußerst komplex ist kann durch künstliche Intelligenz, die künftig in Logistikzentren zum Einsatz kommt, die Arbeit für den Menschen erheblich erleichtert und Prognosen beziehungsweise Empfehlungen ausgesprochen werden. Dabei steht nicht nur die Verbindung zwischen Mensch und Maschine im Vordergrund, sondern auch die Frage, wie Maschinen Routineaufgaben erkennen und erlernen können. Machine Learning, also maschinelles Lernen, steht hier in einem engen Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz, denn die Software ist dazu in der Lage, eigene Schlüsse aus eingegebenen Daten zu ziehen, die wiederum zum Beispiel aus den Erfahrungen der Kunden sowie von Mitarbeitern der Logistikzentren stammen.

wm: Welchen Beitrag kann ein moderner Logistik-Leader zum Thema Nachhaltigkeit leisten?

Pfennig: Nun, er kann proaktiv seine Haltung in der Branche vertreten, ohne Greenwashing zu betreiben. Es gibt eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen, die im Bereich der Logistik durchgeführt werden können, von der spritsparenden Tourenplanung, einem modernen Fuhrpark, die Vermeidung von Leerfahrten, der Entsieglung von Logistikflächen, Schaffen von Ausgleichsflächen, eine angemessene Bezahlung der Mitarbeiter, um hier nur einen Bruchteil zu nennen. Wer etwas gut macht, darf auch ruhig darüber sprechen, wenn er eben bei der Wahrheit bleibt. Damit wird er neue sensibilisierte Kunden und schließlich Nachahmer finden, mit denen er sich an runden Tischen über weitere Maßnahmen, zum Beispiel in Kooperationsmodellen oder durch technologische Innovationen und Forschung, austauschen und engagieren kann. Eine konsequente Berücksichtigung der Anforderungen aller Stakeholder wird die Türen zu einem passenden sozialen Engagement öffnen, von dem letztlich auch die direkten Anlieger und die direkte Umwelt profitieren werden.

wm: Herr Pfennig, Herr Englert, vielen Dank für das Gespräch.

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