2024/6 | Fachbeitrag | Knowledge Sharing

Wenn zwei Boomer auf GenZ treffen: Wissensmanagement, New Work & Future Skills – drei Konzepte, die perfekt matchen

Ein Blick in aktuelle Unternehmensstrategien der unterschiedlichsten Branchen zeigt, dass Themen wie Digitale Transformation, New Work oder Future Skills zuoberst auf der strategischen Agenda stehen. Wird mit diesem strategischen Fokus das Thema Wissensmanagement in Organisationen zunehmend obsolet? Wir haben Prof. Dr. Andrea Belliger, Expertin für Digitale Transformation, getroffen und mit ihr über die Rolle von Wissensmanagement im Kontext von New Work und Future Skills gesprochen.

wissensmanagement: Frau Prof. Dr. Belliger, unsere Arbeitswelt verändert sich rasant. Braucht es in Zeiten von ChatGPT, Gemini und CoPilot überhaupt noch Wissensmanagement?

Andrea Belliger: Wissensmanagement kommt tatsächlich aus einer völlig anderen Zeit. Seine Ursprünge liegen in den 1960er Jahren. Damals erkannten Unternehmen die wachsende Bedeutung von Wissen als Ressource. Forscher wie Drucker, Strassmann und Senge entwarfen in den 70er Jahren erste Theorien und Anwendungen des Wissensmanagements. Ab den 80er Jahren ermöglichten es Technologien, grosse Datenmengen zu sammeln und systematisch zu verwalten. Die beiden japanischen Wissenschaftler Nonaka und Takeuchi erforschten, wie Wissen in Organisationen entsteht und verwaltet wird und lösten damit Mitte der 90er Jahre eine Welle strategischer Wissensmanagement-Initiativen aus. Heute ist Wissensmanagement eine etablierte Disziplin, die Methoden zur Schaffung, Teilung und Nutzung von organisationalem und persönlichem Wissen umfasst. Um aber weiterhin ein Schlüsselfaktor für Innovation, Wettbewerbsvorteile und Qualitätsmanagement und damit relevant und effektiv zu bleiben, muss sich Wissensmangement an neue Paradigmen anpassen.

wm: Wissensmanagement muss sich an das Paradigma der neuen Arbeitswelt - also von New Work - anpassen?

Belliger: New Work hört sich zwar hipp an, ist aber tatsächlich ebenfalls nicht neu. Geprägt in den späten 70er Jahren durch den Sozialphilosophen Frithjof Bergmann, entstand New Work als Antwort auf die damalige Krise in der amerikanischen Automobilindustrie und den Beginn der Automatisierung. Es gab immer weniger Jobs für Menschen und die New-Work-Bewegung hat das zum Anlass genommen, das System unserer Erwerbsarbeit kritisch zu hinterfragen. Interessant ist die historische Parallele zu heutigen Herausforderungen, wie der Bedrohung unser Jobs durch KI, und die Tatsache, dass wir uns heute ganz ähnliche Fragen wie damals stellen. Man könnte also sagen, Wissensmanagement und New Work sind beides "Babyboomer", die sich mit völlig neuen Rahmenbedingungen konfrontiert sehen.

wm: Und sie haben beide ausgedient?

Belliger: Überhaupt nicht! Aber wir müssen - um beim Bild zu bleiben - die zwei Babyboomer, Wissensmanagement und New Work, mit der GenZ, den Future Skills, ins Gespräch bringen. Bergmanns Vision von Arbeit als etwas, das über das bloße Geldverdienen hinausgeht, ist heute relevanter denn je. Er sah Arbeit als "milde Krankheit", die man im besten Fall mit etwas Leiden aushält bis zur Pensionierung und im schlechteren Fall mit Burnout und Erschöpfungsdepression bezahlt. Stattdessen forderte er eine Arbeit, die mit persönlichen Wünschen und Fähigkeiten im Einklang steht - ein Plädoyer für Selbstverantwortung, Freiheit, Sinn, soziale Teilhabe und Verantwortung. Diese Ideen sind der Ursprung von "New Work", und sie adressieren weit über Homeoffice oder M365 hinaus ein sehr vielschichtiges Thema.

wm: Lässt sich diese doch etwas utopische Philosophie auf heutige Unternehmen übertragen?

Belliger: Absolut. New Work bezeichnet heute einen organisationalen Ansatz, der Flexibilität, Autonomie und eine sinnstiftende Tätigkeit in den Mittelpunkt stellt. Es geht darum, Arbeit so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen entspricht, unterstützt durch Technologie und Vielfalt. Es kommt kein Unternehmen heute darum herum, sich mit dieser Thematik ernsthaft zu beschäftigen.

wm: Aber überfordern diese Ansprüche nicht permanent Organisationen und Individuen?

Belliger: Ja, ein Zustand der permanenten Überforderung ist tatsächlich eine große Herausforderung. Während Selbstbestimmung und die Möglichkeit, sich beruflich zu entfalten, positive Effekte auf das Wohlbefinden haben, führen die damit einhergehenden Anforderungen oft zu psychischer Überlastung. Neben der bewussten Gestaltung der Arbeitsbedingungen ist es absolut zentral, dass wir erkennen, dass das, was New Work heute ausmacht - flexible Arbeitsmodelle, Agilität, schnelle Adaption von technologischen Innovationen - von uns neue Fähigkeiten und Kompetenzen erfordert.

wm: Womit wir beim Thema "Future Skills" gelandet wären? Ist das mehr als ein Hypebegriff?

Belliger: Auch wenn der Begriff "Future Skills" ein gewisses Hype-Potenzial hat, so ist die Thematik doch grundlegend wichtig und es lohnt sich, etwas genauer hinzuschauen. Gefragt sind nämlich Kompetenzen, die weit über digitale Fähigkeiten wie cleveres Prompting hinausgehen. Im Bericht des Weltwirtschaftsforums über die Zukunft der Arbeitsplätze werden Schlüsselqualifikationen genannt, die in den kommenden Jahren unverzichtbar sein werden, darunter die Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen, kritisches Denken, Kreativität, emotionale Intelligenz, Selbstmanagement, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit und kognitive Flexibilität. Diese Fähigkeiten sind nicht nur für die individuelle Karriereentwicklung entscheidend, sondern auch für die Widerstandsfähigkeit und Innovation von Unternehmen.

wm: Und wie kommt hier Wissensmanagement ins Spiel?

Bellinger: Wissensmanagement spielt eine entscheidende Rolle bei der Förderung dieser Fähigkeiten, indem es die Zukunftskompetenzen im strategischen Gesamtkonzept verortet und die operativen Rahmenbedingungen dafür schafft. Wissensmanagement stellt beispielsweise sicher, dass Wissen jederzeit und überall z.B. über Cloudlösungen zugänglich ist, dass neues Wissen über KI und maschinelles Lernen entstehen und personalisiert genutzt werden kann und dass über kollaborative Arbeits- und Lernumgebungen Kommunikation, Wissensaustausch und Zusammenarbeit funktionieren.

wm: Wissensmanagement ist also kein Oldie, den wir in den verdienten Ruhestand schicken sollten?

Belliger: Davor sollten wir uns hüten! Wissensmanagement ist ein etablierter Ansatz für effizienten Wissensaustausch in verteilten, flexiblen Teams und unterstützt die Weitergabe von implizitem Wissen, was in der zunehmend projektorientieren New-Work-Umgebung essentiell ist. Ich sehe Wissensmanagement als Orchestrator und Scharnier zwischen neuen Arbeitswelten und Future Skills und einen zentraler Enabler für New-Work-Konzepte. Wissensmanagement, Future Skills und New Work passen prima zusammen, auch wenn sie aus unterschiedlichen Generationen und Zeiten stammen. Sie wirken - ganzheitlich verstanden und umgesetzt - synergetisch und zahlen ein auf Innovation, Agilität und nachhaltige Wettbewerbsvorteile von Unternehmen.

wm: Frau Prof. Dr. Belliger, vielen Dank für das Gespräch.

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Die Interviewpartnerin:

Prof. Dr. Andrea Belliger ist Professorin, Unternehmerin, Autorin und Verwaltungsrätin in verschiedenen Unternehmen. Sie beschäftigt sich mit dem Thema der Digitalen Transformation in unterschiedlichen Branchen von Gesundheit bis Finanzen, von Bau bis Bildung. Als Theologin und Philosophin interessieren sie dabei die großen Werte- und Kulturveränderungen genauso wie technologische Trends und Herausforderungen. 2018/19 wurde sie unter die Top 100 Women in Business gewählt und für den Female Digital Leader Award nominiert, 2019 unter die 25 einflussreichsten Persönlichkeiten der Schweiz im Gesundheitswesen gewählt.

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