2015/1 | Kolumne | Weiterbildung

Mythos 70:20:10 – oder: Ist die traditionelle Weiterbildung tot?

von Wolfgang Hanfstein

Verfolgt man die derzeitigen Debatten über die Zukunft der betrieblichen Weiterbildung, dann könnte man meinen, das Ende der traditionellen Wissensvermittlung sei eingeläutet. „Social Learning“ und „Workplace Learning“ heißen die Buzzwords der Stunde und die Argumente scheinen auf der Seite derer, die sie verbreiten. Immer wieder wird dabei die Formel „70:20:10“ des Autoren-Duos Michael M. Lombardo und Robert W. Eichinger genannt. Die Wissenschaftler behaupten, ganze 70 Prozent des Gelernten basierten auf Erfahrungen, immerhin 20 Prozent auf direktem Feedback von Vorgesetzten und Kollegen und lediglich zehn Prozent auf klassischen Wissensvermittlungsprozessen. Was läge also näher, als das formale Lernen totzusagen und sich allein auf die restlichen 90 Prozent zu konzentrieren?

Was objektiv klingt, ist allerdings nicht mehr als das Resultat einer Befragung einiger erfolgreicher Manager, das von den amerikanischen Wissenschaftlern 1996 im Buch „The Career Architect Development Planner“ veröffentlicht wurde. Die Karriere des 70:20:10-Modells ist erstaunlich – denn die Studie war keinesfalls repräsentativ ausgelegt und auch die prozentuale Verteilung wurde mehr für eine plakative Darstellung gewählt, statt wirklich mathematische Validität aufzuweisen.

Allerdings fingen die Zahlen schnell an, ein Eigenleben zu entwickeln. Die Konsequenz scheint auf den ersten Blick logisch: Wenn für den Großteil des Wissenserwerbs die klassischen Lehrformate überflüssig sind, ist es höchste Zeit, sich um die anderen, informellen Lernfaktoren zu kümmern. Aber ist das auch richtig? Kann eine einzige Studie, die auf Beobachtungen und den Selbstauskünften einiger Manager basiert, die Richtschnur für die betriebliche Weiterbildung darstellen?

Ich meine: Nein! Dieser Weg führt in die Sackgasse. Deshalb ist es wichtig, die scheinbaren Quantitäten in Qualität zu übersetzen. Sicherlich ist Wissen dann am wertvollsten, wenn es erfahrungsgesättigt ist. Ohne Frage nutzt alles Wissen nicht oder verfällt sogar, wenn es nicht angewandt wird. Dazu braucht es keinen Ausflug in die Neurowissenschaften, das leuchtet jedem ein. Wenn wir aber die Menschen nicht dazu verdonnern wollen, sozusagen das gesamte Menschheitswissen jedes Mal aufs Neue zu erfinden, kommen wir um eine solide Aus- und Weiterbildung nicht herum.

Um es ganz deutlich zu machen: Kein Chirurg, kein Flugzeugkapitän, kein Buchhalter und auch kein Personaler kann auf formale Ausbildung verzichten. Bevor ein Elektriker eine Steckdose anschließt, sollte er gelernt haben, was Strom ist. Und bevor eine Führungskraft Jahresgespräche führt, sollte sie gelernt haben, wie man diese führt. Klar, bevor man in seinem jeweiligen Bereich wirklich gut wird, muss man viel üben, üben und nochmals üben. Aber üben kann man nur das, was man zuvor „formal“ gelernt hat. Auch wenn dieses formal erlernte Wissen tatsächlich nur zehn Prozent ausmachen sollte, ist es doch als Grundlage fundamental und bleibt einer der wichtigsten Bausteine der Personalentwicklung. Drehen wir das 70:20:10 doch einmal um und interpretieren wir es als Pflanze: zehn Prozent (Wissens-)Kern, 20 Prozent Erde (soziale Umgebung) und 70 Prozent Wasser (learning on the job). Möge das Wissen reiche Früchte tragen.

Trotzdem bleibt nicht alles beim Alten. Denn auch die klassische Wissensvermittlung profitiert von der Digitalen Revolution. Jetzt lassen sich auch Trainings effektiv reproduzieren und digital verteilen. Sauber aufgearbeitete WBTs und WBVTs (Web-based Videotrainings) können raumzeitlich unabhängig auf allen denkbaren Devices von den Mitarbeitern genutzt werden. Wissen steht damit genau dann zur Verfügung, wenn es gebraucht wird. Die Schlüsselaufgabe für Personaler ist es deshalb, den Mitarbeitern Wissen in allen nur denkbaren Formaten zur Verfügung zu stellen, am besten on demand. Das Stichwort heißt selbstgesteuertes Lernen, und, um ein weiteres Buzzword ins Spiel zu bringen: Performance Support. Denn der größte Lernmotivator ist seit jeher der Lernbedarf. Die traditionelle Weiterbildung ist also längst nicht am Ende – sondern beginnt gerade erst, den digitalen Turbo anzuschmeißen.

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