2013/1 | Kolumne | immaterielle Werte

Der Fluch des Wissens

von Gabriele Vollmar

„Es muss ein Recht auf Nicht-Wissen geben.“ Diese Forderung habe ich kürzlich in einem Artikel über Pränatal-Diagnostik gelesen, in dem ein Elternpaar beschrieben hat, wie das von den Experten aufgezwungene Wissen um die Behinderung ihres ungeborenen Kindes sie vor eine Entscheidung gestellt habe, die eigentlich von niemandem getroffen werden kann. Bzw. sollte niemand in eine Situation gebracht werden, in der er diese Entscheidung treffen muss. Nicht-Wissen also als (notwendiger) Schutz, Wissen als (emotionaler) Stress? An dieser Stelle haben wir uns schon mehrfach mit dem Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen auseinandergesetzt. In der Regel unter dem Aspekt der kreativen Kraft von Nicht-Wissen. Nun möchte ich einmal die Ignoranz-Kompetenz in den Vordergrund rücken. Was könnte man unter Ignoranz- Kompetenz verstehen? Und warum ist diese wichtig für uns Wissensarbeiter?

In unserer Wissensgesellschaft sind wir tagtäglich einem immensen Informationssturm ausgesetzt. Ich stelle mir diesen vor wie einen Sandsturm, d. h. Information prasselt permanent wie Millionen kleiner Sandkörner auf uns ein. Trotz oder gerade wegen dieses Sturms wird gleichzeitig das Feld des Nicht-Wissens immer größer. Warum? Weil sich auf unseren jeweiligen Fach- oder Interessensgebieten mit hoher Dynamik ständig neues Wissen entwickelt und daraus hervorgehend neue Informationskörnchen, die auf uns einprasseln, weil wir dank moderner Technik jederzeit und überall diese Entwicklungen verfolgen können. Das übersteigt aber unser Fassungsvermögen, d. h. wir müssen uns, wenn wir im Sturm nicht untergehen wollen, damit abfinden, dass wir nicht alles wahrnehmen, verfolgen und dann vor allem ja auch aufnehmen und verstehen können. Vor allem letzteres braucht Zeit und Konzentration (Konzentrieren Sie sich mal in einem Sandsturm!), Zeit zur Wissensreifung eben. Ignoranz- Kompetenz meint hier, dass wir das Wissen um unser Nicht-Wissen aushalten können. Und vielleicht die Spannung zwischen (Welt-)Wissen und Nicht-Wissen sogar kreativ nutzen können?

Ignoranz-Kompetenz meint aber auch, dass wir aktiv einen Windschutz aufbauen, der die Anzahl der auf uns einprasselnden Informationskörner reduziert. Und zwar bewusst und strategisch gesteuert. Damit wir uns im Windschatten unseres Ignoranz- Paravents mit Ruhe und Konzentration auf das Verstehen einlassen können. Doch in welche Richtung sollen wir diesen Schirm ausrichten? Wie groß soll er sein? Wie durchlässig? Wie dauerhaft? Eine klare Zielvorstellung als Teil eines strategischen persönlichen Wissensmanagements kann hier sicherlich Anhaltspunkte liefern. Wahrscheinlich sind wir ja auch Teil eines ignoranzkompetenten Netzwerkes, indem die einzelnen Schirme eine jeweils geringfügig andere Ausrichtung haben und damit im Zusammenspiel dann doch wieder eine vergleichsweise hohe Abdeckung ergeben. Als ignoranzkompetente Wissensarbeiter halten wir es aber auch aus, dass unser Schirm gegebenenfalls Information abhält, die eben doch interessant und wichtig gewesen wäre (siehe oben).

Nicht-Wissen ist notwendig, damit Wissen möglich ist. Wenn wir unser Nicht-Wissen nicht akzeptieren, werden wir Wissen aufgrund mangelnder Konzentration nicht zulassen. Und wir gefährden uns selbst: Bei den Stuttgarter Wissensmanagement- Tagen wurden in einigen Vorträgen Themen rund um Stress und Burn-out von Wissensarbeitern diskutiert. Eine Folge des ungeschützten Aushaltenwollens des Informationssturms.

Wie ist es nun aber mit dem eingangs angeführten Recht auf Nicht-Wissen? Dieses stellt Experten vor eine (moralische) Herausforderung, müssen diese doch unter Umständen akzeptieren, dass sich das Gegenüber für das Nicht-Wissen entschieden hat. Damit kann der Experte sein Wissen nicht teilen. Warum fällt uns das schwer?

Das Motto der europäischen Aufklärung, sapere aude, also wage es, zu wissen, hat unsere westliche Kultur über Jahrhunderte geprägt, hat letztlich unser aller Sozialisierung geprägt. Die Verweigerung von Wissen, rückt immer auch in die Nähe von „Aberglaube“, „finsteres Mittelalter“, „Unmündigkeit“. Wissen ist nun einmal per se positiv, Nicht-Wissen zunächst negativ konnotiert. Wenn wir also unser wertvolles Wissen weitergeben, helfen wir dem anderen aus seiner Unmündigkeit und befähigen ihn zu einer eigenen Entscheidung als freier Mensch. Für die Existentialisten um Sartre und Camus ist der Mensch in die Welt geworfen und hier zur Freiheit, damit aber auch zur Entscheidung und in der Folge Verantwortungsübernahme verdammt. Wissen zu verweigern, damit eine Entscheidung zu verweigern, widerspricht unseren gesellschaftlichen Idealen. Trotzdem ist es eine Fragestellung, mit der wir uns als Wissensarbeiter auch auseinandersetzen müssen. Schließlich geht es uns um Wissen und damit immer auch um seinen Schatten, das Nicht-Wissen.

Ihre Gabriele Vollmar

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