2018/8 | Fachbeitrag | Leadership 2.0

Agile Führung im digitalen Wandel: Alte Mythen und neue Strategien

von Dr. Sven Grote, Prof. Dr. med. Joachim Fischer

Inhaltsübersicht:

Überholte Führungsstrategien stehen dem digitalen Wandel heute im Weg. Fehlende Motivation in Folge unzeitgemäßen Leaderships kann dabei zur Erfolgsbremse werden. Als erheblicher Wertschöpfungsfaktor darf insbesondere die psychische Gesundheit der Mitarbeiter heute nicht hoch genug bewertet werden. Erlebte Sinnhaftigkeit und Führungskräfte als „Pflegekräfte“ für das Betriebsklima können dazu einen erheblichen Beitrag leisten. Wer bei klassischen Angeboten der Gesundheitsförderung für Einzelpersonen stehen bleibt, schöpft die Potenziale eines ganzheitlichen Gesundheitsmanagements nicht aus.

7 weit verbreitete Führungsmythen

„In der Führungsforschung gibt es nichts, was es nicht gibt“, resümierte der Organisationspsychologe Prof. Nerdinger bereits im Jahr 1994. Und die Welt der Führungsansätze, der Führungsmodelle, der Führungsinstrumente ist seitdem nicht weniger bunt. Allein die Führungskräfteentwicklung treibt zahlreiche Blüten, vom Führen mit Pferden und Wölfen, über Persönlichkeitstrainings, Outdoor-Seminare mit und ohne Floßbau bis hin zu mannigfaltigen Esoterikangeboten, um nur wenige Stichworte zu nennen. Ähnlich verhält es sich mit Anforderungen an Führungskräfte. Hier ist genau zu prüfen, was wirklich sinnvoll ist und einer genaueren Betrachtung – auch im Sinne des evidenzbasierten Managements – standhält oder sich vielleicht als Mythos erweist. Und davon gibt es einige.

  • Mythos 1: Kompetenz ist ein Modethema.

Die Handlungskompetenz von Führungskräften und Mitarbeitern kann nicht als vergängliches Trend- oder Modethema abgetan werden. Sie ist vielmehr als zeitloser Kern des unternehmerischen Wandels und als ein Garant für den Erfolg in der Industrie 4.0 zu sehen. Handlungskompetenz geht über Wissen und formelle Qualifikation hinaus und fokussiert auch die praktische Anwendung von Wissen. Sie bewährt sich vor allem in neuartigen, unbekannten Situationen. Handlungskompetenz wurde schon in Zeiten „relativer Stabilität“ als relevant erachtet. Umso mehr steigt die Bedeutung von Handlungskompetenz in Zeiten „disruptiver“, also exponentiell-sprunghafter Veränderungen. Die systematische Definition und Entwicklung relevanter Kompetenzen bleibt eine wichtige Führungsaufgabe.

  • Mythos 2: Fachkompetenz ist nicht wichtig.

Dies ist ein Mythos, den man seit vielen Jahren hört, oftmals von Beratern oder Trainern. Demnach ist Fachkompetenz bei Führungskräften gar nicht so wichtig. Viel wichtigere Erfolgsfaktoren seien soziale Kompetenzen und emotionale Intelligenz. Einer genaueren Betrachtung hält diese Aussage jedoch nicht stand. Hierfür lassen sich weder in der Forschung noch in der Praxis Anhaltspunkte finden. Im operativen Geschäft gibt es selten Führungskräfte, die ohne ausgeprägte Fachkompetenz dauerhaft erfolgreich agieren, allein schon weil die Akzeptanz durch die Mitarbeiter fehlen würde. Eine eingeschränkte Fachkompetenz lässt sich nicht ohne weiteres durch soziale Kompetenzen wie etwa Empathie oder Intuition kompensieren.

  • Mythos 3: Sozialkompetenz ist der Erfolgsfaktor schlechthin.

Frühere Studien (mit Prof. Kauffeld und Prof. Frieling) mit echten Teams aus Unternehmen nach dem Kasseler-Kompetenz-Raster (heute Act4-teams) haben die Rolle der Kompetenzen untersucht. Das Kasseler-Kompetenz-Raster, kurz KKR, ist ein im Jahr 2000 am Institut für Arbeitswissenschaft der Universität Kassel entwickeltes Verfahren zur „Fremdeinschätzung der Problemlösungskompetenz von Gruppen“. Eine Gruppe von fünf bis sieben Mitarbeitern bearbeitete dazu ein aktuelles und relevantes Problem aus dem betrieblichen Ablauf in 60 bis 90 Minuten. Der Prozess der Problembearbeitung wurde dazu aufgeschrieben und anhand des KKR ausgewertet. Diese Untersuchung zeigte die Bedeutung insbesondere der Fach-, Methoden- und Selbstkompetenzen auf; soziale Kompetenzen differenzierten weniger bzw. kaum zwischen effektiven und weniger effektiven Problemlösegruppen.

  • Mythos 4: Führungskräfte müssen extrovertiert sein.

Die empirische Datenlage bestätigt dies nicht. Es gibt zahlreiche Gegenbeispiele von höchst erfolgreichen und gleichzeitig wenig extrovertierten Führungskräften und Unternehmensgründern. Führungskräfte gelangen auf ganz unterschiedliche Weise zu Akzeptanz bei den Mitarbeitern und Wirksamkeit im Unternehmen, etwa durch Beharrlichkeit, Ausdauer, Loyalität dem Unternehmen und den Mitarbeitern gegenüber, Zugänglichkeit und vertrauensvollen Umgang. Extrovertierte Menschen kommen zwar leichter an Führungsposten, sie sind aber dadurch nicht zwangsläufig erfolgreicher als andere.

  • Mythos 5: Die Industrie 4.0 und der digitale Wandel sind ein neuer Lebensabschnitt für die deutschen Unternehmen.

Viele Unternehmen beschäftigen sich schon seit Jahren mit der digitalen Transformation, durchgängigen Prozessen und der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Die digitale Transformation ist für zukunftsorientierte Unternehmen schon lang im Fokus, auch wenn sie aktuell neue Impulse erfährt und an Fahrt gewinnt.

  • Mythos 6: Wer verstehen will, was die digitale Transformation bedeutet, muss ins Silicon Valley.

Denn hier sind demnach die Vordenker, die Trendsetter, die Visionäre des neuen Arbeitens zu finden. Doch sind wesentliche Aspekte der Unternehmenskultur „unsichtbar“. Auch lässt sich vieles nicht „eins-zu-eins“ übertragen. Zahlreiche Führungsinstrumente des Silicon Valley setzen zwar neue Impulse, tragen jedoch auch bekannte und vertraute Aspekte in sich. Bestimmte Konzepte wie die agile Führung drohen zu Modewörtern zu verkommen.

  • Mythos 7: Digitalisierung ist vor allem eine Frage der Technologie.

Es besteht die Gefahr, die Digitalisierung und Industrie 4.0 auf technologische Aspekte zu verengen. Es reicht oft nicht, eine App anzubieten. Zu einfach gedachte Lösungen geraten dann zu „digitalen Seifenblasen“, die in der Praxis zerplatzen. Nachhaltige Digitalisierungsprozesse betreffen zumeist auch Fragen der Kooperation, der Führung und Unternehmenskultur bis hin zu Wertefragen. Diese Fragen zu umgehen, mag als attraktive Abkürzung erscheinen, entpuppt sich zumeist aber als Sackgasse. Unternehmen brauchen zur erfolgreichen Digitalisierung Handlungskompetenzen. Es geht darum, die eigenen Kompetenzen zu reflektieren, zu kommunizieren und systematisch zu entwickeln. Ausprobieren, Scheitern und Lernen gehören ebenso dazu wie die richtige Kommunikation. Es gilt, Mitarbeitern Freiheiten einzuräumen, sich mit ihnen auszutauschen, zu wissen, was sie wollen und ihnen zu signalisieren, dass ihre Ideen willkommen sind.

Auf große Veränderungen, auf Wandel, auf eine unklare Zukunft, wie sie die digitale Transformation mit sich bringt, können Organisationen leichter reagieren, die auf Kompetenzen setzen. Ausprobieren, scheitern, verwerfen, seine Kompetenzen erkennen und neue hinzugewinnen. All das ist keine Zauberformel. Aber es ist vielleicht ein Tipp, den man zugunsten erfolgreicher Führung in Zeiten von Disruption und digitaler Transformation als Führungskraft noch stärker beherzigen sollte.

Psychische Gesundheit der Mitarbeiter als erheblicher Wertschöpfungsfaktor

Eine treffende Umschreibung für die Rahmenbedingungen von Disruption und digitaler Transformation ist VUCA: Sie steht für volatility (Schwankungen), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Widersprüchlichkeit). Wie lassen sich in Zeiten von VUCA der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer und die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens miteinander in Einklang bringen?

Insbesondere den Führungskräften kommt eine zentrale Rolle zu, wenn es um die Förderung von Gesundheit und Produktivität der Mitarbeiter geht. Zugleich muss sich das auch betriebswirtschaftlich für das Unternehmen rechnen. Unbestritten ist zudem, dass besonders in Betrieben mit einem hohem technischen Digitalisierungsgrad und einer ausgeprägten Projektorganisation Handlungsbedarf besteht. Das Top- sowie das untere Management sind hier besonders in der Pflicht, Gefährdungen frühzeitig zu identifizieren, um einem hohen Krankenstand, Burn-Out durch permanente Überforderung und einem hohen Stress-Level entgegenzuwirken. Der Schlüssel dazu ist die „Kultur der Prävention“ – und meint dabei deutlich mehr als den Veggie-Tag in der Kantine, das Bereitstellen von Desinfektinsmitteln in der Grippezeit oder die Rückenschule.

Freude steigert die Produktivität: Weiche Faktoren lange unterschätzt

Dass Arbeit nicht zwangsläufig krankt macht, sondern einen vitalisierenden, ja sogar einen vergleichbar lebensverlängernden Effekt auf die menschliche Psyche haben kann wie Sport, ist inzwischen nachgewiesen. Der Allgemeinzustand von Langzeitarbeitslosen bessert sich in der Regel schlagartig, sobald sie eine Arbeit aufnehmen. Auch Menschen, die nicht zwangsweise in Rente gehen müssen, sondern freiwillig länger arbeiten dürfen und sich nützlich fühlen, leben erfahrungsgemäß länger als regulär Verrentete. [1] Denn der betrieblichen Gesundheits- und Motivationsförderung kommt es nicht zuletzt auch auf weiche Faktoren an:

  • die Wertschätzung des Vorgesetzten,
  • die Möglichkeit, ein erfülltes Familienleben zu führen (Work-Life-Balance),
  • einen sicheren Arbeitsplatz und
  • eine sinnhafte Tätigkeit.

Hätten Sie gedacht, dass wertschätzende Anerkennung vom Chef bis zu mehrere Wochen positiv auf die Psyche des Mitarbeiters nachwirkt? Die Bedeutung – auch für das Unternehmensergebnis – dieser so genannten weichen Faktoren sind viel zu lange unterschätzt worden. Nimmt man die Befunde aus neueren wissenschaftlichen Untersuchungen ernst, sollten Unternehmen viel stärker hinterfragen, wie stark bei ihnen der „Freusinn“-Faktor [2] ausgeprägt ist:

  • Wecken unsere Vorgesetzten Begeisterung für das Unternehmen oder Projekt?
  • Unterstützten sie das Team und behandeln sie alle gerecht?
  • Spenden sie ausreichend Lob, Anerkennung und Wertschätzung?
  • Stehen Arbeitsplatzsicherheit, Entwicklungschancen und Lohn in einem guten, angemessenen Verhältnis?
  • Gehört der Verzicht auf Herabwürdigung zur Kultur im Unternehmen?

Führungskräfte: Gestalter und „Pflegekräfte“ des Betriebsklimas

Wenn nur einige Fragen mit „Nein“ zu beantworten sind, ist Handlungsbedarf angesagt. Denn medizinische Gründe erklären den schlechten gesundheitlichen Zustand vieler Mitarbeiter nur teilweise. Den Löwenanteil machen psycho-soziale Faktoren aus. Mit zehn Prozent mehr Gesundheit erreichen Organisationen gerade mal ein Prozent mehr Produktivität, bei Menschen mit zehn Prozent mehr Freude und Sinnhaftigkeit steigert sich die Produktivität hingegen um fünf Prozent. Umgekehrt gilt: Ein schlechtes Betriebsklima wirkt sich negativ auf die Gesundheit der Mitarbeiter aus. Defizite in der Unternehmenskultur steigern Krankenstände und Personalfluktuation und verschaffen der Konkurrenz ungewollt Wettbewerbsvorteile. Erkranken Mitarbeiter an Depression oder Burn-Out, sollten Führungskräfte und Top-Manager das viel ernster nehmen und durchaus selbstkritisch die Gestaltung der Arbeitsbedingungen bis hin zum eigenen Führungsstil hinterfragen.

Anmerkungen:

[1] „Wer zeitig in Rente geht, ist eher tot“: Suedeutsche, 12.9.2016

[2] „FreuSinn“ ist ein Kofferwort aus „Freude“ und „Sinnhaftigkeit“.

 

 

 

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