2024/5 | Praxis Wissensmanagement | Best Practices

25 Jahre Wissensmanagement – ein persönlicher Rückblick und Ausblick

von Dr. Wolfgang Sturz

Reutlingen, September 1999: Die erste Ausgabe von "Wissensmanagement - Das Magazin für Führungskräfte" lag vor mir auf meinem Schreibtisch. Es war der Abschluss einer intensiven Vorbereitungsphase und der Start in ein aus damaliger Sicht ungewisses Projekt. Welches Standing hatte das Wissensmanagement damals? Was hat sich in den 25 Jahren getan? Und wo geht die Reise heute hin?


Bildquelle: (C) kalhh / Pixabay

Erst KI, dann Wissensmanagement?

Interessanterweise hat der Begriff Wissensmanagement Ende der 1990er Jahre zunächst einmal den Hype der 1980er und frühen 1990er Jahre um das Thema "Künstliche Intelligenz" und "Expertensysteme" abgelöst. Unzählige Forschungsprojekte hatten sich damals mit der Frage beschäftigt, ob menschliches Wissen in IT-Systeme gepresst werden kann. [1] So wurde beispielsweise intensiv an Expertensystemen gearbeitet, die Ärzte in der medizinischen Diagnostik [2] ersetzen oder zumindest unterstützen sollten. Große Projekte wurden gestartet, mit kryptischen Namen wie CADUCEUS [3] für die internistische Diagnostik oder MYCIN [4] für die Diagnose von Infektionskrankheiten. Auch in anderen Bereichen wurde geforscht und entwickelt. So sollte das Projekt "Verbmobil" [5, 6] - gefördert mit weit über 100 Mio. DM - ein Echtzeit-Dolmetschen möglich machen; ein gewagter, utopischer Traum in der prä-Smartphone-Zeit.

All diese Systeme hatten eines gemeinsam: Es waren regelbasierte Systeme, die auf der Basis von Algorithmen und Entscheidungsbäumen Analysen liefern sollten. Allerdings waren die Ergebnisse eher bescheiden, weil in all den Algorithmen trotz des immensen Aufwandes immer nur ein Bruchteil der möglichen Fragestellungen antizipiert werden konnte.

"Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß"

Es war unausweichlich: Mitte der 90er Jahre begann der sogenannte KI-Winter, und die Arbeiten im Bereich künstlicher Intelligenz wurden zunächst weitgehend zu den Akten gelegt. Dafür nahmen aber die Diskussionen um das Wissensmanagement an Fahrt auf. "Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß", war damals ein geflügelter Satz. In diesem Umfeld entstand die Idee und dann auch die Entscheidung, dem Thema ein regelmäßig erscheinendes Magazin zu widmen.

Es war eine Entscheidung, die zunächst sowohl im geschäftlichen als auch im privaten Umfeld auf viel Skepsis stieß. "Ja, das ist natürlich ein interessantes Thema, dazu lässt sich sicherlich etwas schreiben. Aber sechs Ausgaben pro Jahr? Ein Magazin nur über das Thema Wissensmanagement? Das kann nie und nimmer funktionieren, das ist irgendwann abgegrast!"

Es hat funktioniert. Das Magazin floriert und hat sich in den Folgejahren unter der fachlichen und redaktionellen Leitung von Nicole und Oliver Lehnert zu dem führenden deutschsprachigen Magazin für dieses Thema entwickelt.

Informations- vs. Wissensmanagement

Aber zunächst einmal zu den Basics: Was ist Wissensmanagement überhaupt? Und wie unterscheidet sich Wissensmanagement eigentlich vom Informationsmanagement?

 

Bevor ich näher auf diese Differenzierung zwischen Wissensmanagement und Informationsmanagement eingehe, möchte ich mich zunächst auf die Entwicklung des Informationsmanagements beschränken - denn da hat sich tatsächlich unglaublich viel getan, mit einer Geschwindigkeit, die im September 1999 nicht im Geringsten vorhersehbar war.

Information speichern, Silos vermeiden

In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren konzentrierten sich die Bemühungen nach dem Scheitern der Expertensysteme zunächst darauf, Informationen innerhalb von Organisationen zu erfassen und zu strukturieren. Die Herausforderung bestand darin, das ständig wachsende Volumen an Informationen zu ordnen und zugänglich zu machen. Unternehmen begannen, Informationsdatenbanken aufzubauen und standardisierte Prozesse zu entwickeln, um Informationen zu speichern und zu teilen.

Ein zentrales Ziel in dieser Phase war die Vermeidung von "Informationssilos" - Situationen, in denen Informationen isoliert in einzelnen Abteilungen oder bei bestimmten Mitarbeitern verblieben. Dokumentenmanagement-Systeme und Intranets wurden populär, um Informationen organisationsweit zugänglich zu machen.

Mit dem Aufkommen von Web-2.0-Technologien und sozialen Medien in den frühen 2000er Jahren erlebte das Informationsmanagement einen Wandel hin zu mehr Kollaboration und Vernetzung. Der Fokus verlagerte sich auf die Förderung des Informationsaustauschs durch soziale Netzwerke, Wikis und Blogs. Unternehmen erkannten aber auch, dass das implizite Wissen - also das Erfahrungswissen, das in den Köpfen der Mitarbeiter steckt, das Wissen um den Umgang mit Informationen - ebenso wichtig ist wie explizite, dokumentierte Informationen.

Social Knowledge Management, Big Data und KI

In dieser Zeit wurde der Begriff "Social Knowledge Management" geprägt, der die Integration von sozialen Netzwerken und kollaborativen Plattformen in das Informationsmanagement beschreibt. Diese Entwicklung ermöglichte es, Informationen viel schneller zu verbreiten und dadurch auch effektiver und innovativer zu nutzen.

Dann kamen die 2010er Jahre mit neuen Stichworten wie "Big Data". Und auch der Begriff "Künstliche Intelligenz" wurde wieder wiederbelebt.

Informationssuche 4.0

Es war ein Jahrzehnt, in dem durch "Number Crunching" und "Data Mining" plötzlich völlig neue Möglichkeiten der Informationssuche und der Analyse logischer Zusammenhänge in schier unendlichen Datenmengen möglich wurden. Die Fähigkeit, große Datenmengen in Echtzeit zu analysieren und daraus nutzbare Informationen abzuleiten, war revolutionär. Die neuen Systeme und Werkzeuge konnten nun automatisch Informationen aus unstrukturierten Daten extrahieren, Muster erkennen und sogar Prognosen treffen.

Unternehmen begannen, diese Systeme zu erweitern, um Informationslücken zu identifizieren, personalisierte Lernpfade für Mitarbeiter zu erstellen und datengetriebene Entscheidungen zu optimieren.

Willkommen im KI-Zeitalter

Heute, im Jahr 25 des Magazins Wissensmanagement, sind wir wohl endgültig im Zeitalter der sogenannten "Künstlichen Intelligenz" angekommen. An dieser Stelle soll nicht auf die beeindruckenden Fähigkeiten von ChatGPT & Co. eingegangen werden; dazu gibt es täglich neue Veröffentlichungen und Erfolgsmeldungen. Stattdessen möchte ich auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen: Geht es bei diesen neuen Technologien nun endlich um Wissensmanagement? Sind die Systeme wirklich intelligent? Oder ist das auch wieder nur eine deutlich leistungsfähigere Variante des Informationsmanagements?

Je nach Betrachtungsweise wird ChatGPT gerne eine eigene Intelligenz unterstellt, also ein intelligenter Umgang mit Wissen. Dem möchte ich hier ausdrücklich widersprechen. Auch ChatGPT ist letztlich nichts anderes als ein Informationsmanagement-System. Der große Unterschied: ChatGPT verwaltet in den sogenannten LLMs, den Large Language Models, unfassbar viele Texte. Für die Verknüpfungen zwischen den Wörtern in den Texten lassen sich mithilfe moderner Hard- und Software mathematische Modelle, also mathematische Spiegelbilder der Inhalte, entwickeln. Mit den sogenannten Prompts kann man erreichen, dass diese Inhalte durch mathematische Umrechnungen komplett neu zusammengesetzt werden - mehr oder weniger sinnvoll. Und das ist dann die Reaktion des LLMs auf die Eingabe durch den Benutzer. Das Ergebnis sieht intelligent aus, ist aber tatsächlich nur das Resultat komplexer Mathematik.

Letztlich wird es also wichtiger denn je, eine klare Trennung zwischen Informationsmanagement und Wissensmanagement vorzunehmen. Ja, ChatGPT bietet völlig neue Möglichkeiten zur Auswertung und kreativen Nutzung bestehender Textmengen. Der Output ist jedoch immer auf irgendeine Weise ein Plagiat.

Damit sollen die Potenziale, die sich durch ChatGPT und Co. ergeben, in keiner Weise geschmälert werden. Richtig eingesetzt, stellen diese Systeme Informationen so zusammen, dass der Anwender oft mehr Impulse mitnehmen kann als bei einem ausführlichen Brainstorming oder einer klassischen Google-Sitzung. Das ist es, was diese Systeme so ungemein interessant macht.

Gestern wie heute: Der Mensch als Enabler des Wissensmanagements

Kurz gesagt: Der Mensch bleibt der Wissensmanager, der heute jedoch mehr denn je gefordert ist, alle Möglichkeiten des Informationsmanagements, insbesondere unter Einbeziehung moderner KI, effizient zu nutzen. Angst vor der Konkurrenz durch die KI ist fehl am Platz. Sorgen sollte man sich nur dann machen, wenn der Wettbewerber schneller ist und die KI effizienter und kreativer zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben einsetzt.

Aber, und das ist nach 25 Jahren Wissensmanagement-Magazin eigentlich die Quintessenz: Das Informationsmanagement hat sich in einem Maße entwickelt, das nicht vorhersehbar war und das ungeahnte Potenziale bietet. Der Wissensmanager muss Schritt halten und lernen, diese Potenziale sinnvoll zu nutzen und einzusetzen. Das Magazin Wissensmanagement wird dabei in den nächsten 25 Jahren noch stärker als bisher eine zentrale Rolle bei der Unterstützung von Wissensmanagern einnehmen.



Quellen:

[1] Coy, W., Bonsiepen, L. (1989). Erfahrung und Berechnung: Kritik der Expertensystemtechnik. Deutschland: Springer Berlin Heidelberg.

[2] Spreckelsen, C., Spitzer, K. (2009). Wissensbasen und Expertensysteme in der Medizin: KI-Ansätze zwischen klinischer Entscheidungsunterstützung und medizinischem Wissensmanagement. Deutschland: Vieweg+Teubner Verlag.

[3] en.wikipedia.org/wiki/CADUCEUS_(expert_system)

[4] de.wikipedia.org/wiki/Mycin_(Expertensystem)

[5] de.wikipedia.org/wiki/Verbmobil

[6] Wahlster, W. (1997). Verbmobil: Erkennung, Analyse, Transfer, Generierung und Synthese von Spontansprache. Deutschland: DFKI.

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