„CEOs, traut Euren Mitarbeitern etwas zu!“

Es ist schwer zu sagen, was größer ist: der Digitalisierungsstau in deutschen Unternehmen oder die IT-Fachkräftelücke. Sven Pietsch, Mitbegründer und Geschäftsführer der Innoloft GmbH aus Aachen, sieht in No-Code-Lösungen, die sich auch ohne tiefgreifende Software-Kenntnisse bedienen lassen, den entscheidenden Schlüssel für die notwendige Digitalisierung. Durch deren Einsatz Mitarbeiter zu „Citizen Developers“ werden – und so schnell selbst neue Ideen in Prototypen umsetzen und diese bei Bedarf anpassen, ohne lange Entwicklungszyklen durchlaufen zu müssen. Wie die Idee genau funktioniert und wie Firmen davon profitieren, berichtet Pietsch im Interview.

Abbildung: Mit der Förderung von No-Code-Lösungen möchte Sven Pietsch die Digitalisierung in deutschen Unternehmen vorantreiben. | Quelle: © Innoloft GmbH



Können Sie uns Ihre Definition eines "Citizen Developers" geben und erläutern, wie diese Rolle in der modernen IT-Landschaft nicht nur die Entwicklung von Anwendungen vorantreibt, sondern auch die Agilität und Anpassungsfähigkeit von Unternehmen in Zeiten der digitalen Transformation stärkt?

Ein "Citizen Developer" ist für mich zunächst jemand, der keine tiefen technischen Programmierkenntnisse hat, aber dennoch in der Lage ist, Anwendungen und Software-Lösungen zu erstellen. Wir bei Innoloft haben uns dazu entschlossen, dass jeder ein Mitarbeiter eines Unternehmens ein Citizen Developer sein kann, sofern er oder sie ein Basis-Verständnis mitbringt, was auch benötigt wird, um beispielsweise eine PowerPoint-Präsentation zu erstellen oder auch ein Smartphone zu bedienen. Mehr braucht es nicht. Die Rolle des Citizen Developers kann in der modernen IT-Landschaft von entscheidender Bedeutung werden, da sie die normalerweise sehr langsamen Digitalisierungsprozesse in deutschen Unternehmen disruptiv beschleunigen kann. Nicht nur ich, auch führende Analysten wie Gartner sagen: Wenn sich Unternehmen am Markt behaupten wollen, dann gibt es bereits mittelfristig keine andere Lösung, als die Belegschaft flächendeckend zu befähigen, IT-Anwendungen selbstständig zu erstellen.

Angesichts des anhaltenden Fachkräftemangels in der deutschen IT-Branche: Inwiefern können "Citizen Developers" einen Beitrag leisten, um diesen Engpass zu bewältigen, und welche spezifischen Vorteile könnten sich für Unternehmen ergeben?

Wenn wir 100 Geschäftsführern die Frage stellen, ob es in ihrem Unternehmen noch weiteres Digitalisierungs- und Automatisierungspotential gibt, wie viele werden "ja" antworten? 98? 99? Der Bedarf nach Entwicklungskapazitäten ist also riesig. Bereits 2022 gab es laut Bitkom 140.000 offene IT-Stellen allein in Deutschland. Die IT-Studierendenzahlen sinken. Alle Studien sagen voraus, dass sich die Situation am Markt in den nächsten Jahren weiterhin massiv verschlechtern wird. Wenn ich also weiter digitalisieren will, habe ich gar keine andere Wahl, als vorhandene Mitarbeiter zu befähigen und so das Zepter selbst in die Hand zu nehmen. Dies reduziert die Abhängigkeit von einer begrenzten Anzahl von hoch qualifizierten Entwicklern und ermöglicht es Unternehmen, Digitalisierungskompetenz ganz breit im Unternehmen zu verankern. Zusätzlich ergeben sich spezifische Vorteile, wie eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit und eine stärkere Bindung an das Unternehmen, da Mitarbeiter in die Gestaltung und Entwicklung von Lösungen einbezogen werden.

Die fortschreitende Digitalisierung erfordert innovative Ansätze in der Softwareentwicklung. Wie könnten "Citizen Developers" dazu beitragen, nicht nur die Entwicklung von Anwendungen zu beschleunigen, sondern auch die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen in Zeiten der digitalen Transformation zu stärken, insbesondere im Hinblick auf flexiblere Geschäftsprozesse?

Werfen wir einmal einen Blick auf heutige Geschäftsprozesse. Eine Fachabteilung hat eine Digitalisierungsidee, erstellt ein Konzept, präsentiert die Idee unzählige Male und sammelt sich Unterschriften ein. Anschließend geht es zur IT-Abteilung, welche ein Lastenheft fordert und dann wird im schlimmsten Fall eine externe IT-Agentur gesucht und gewartet. 6-12 Monate Prozessdauer bis zum Go-live sind eher der Regelfall als die Ausnahme. Der Prozess bis zum Programmierstart dauert mindestens genauso lange, wie die Umsetzung selbst. So traurig wie es klingt, so funktioniert Deutschland im Jahr 2024. Mit unserer No-Code-Lösung LoftOS haben wir gezeigt, dass wir diese Entwicklungszeiten von ursprünglich 6-12 Monaten auf wenige Tage reduzieren können. Ein Unternehmen, welches 12 Monate vor der Konkurrenz Kosten sparen oder den Output durch Prozessdigitalisierung erhöhen kann, hat zwangsläufig einen wirtschaftlichen Vorteil. Es geht hier also längst nicht mehr nur um Kosmetik. Es geht um die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens. Durch den Einsatz von No-Code-Plattformen können Mitarbeiter schnell neue Ideen in Prototypen umsetzen und diese bei Bedarf anpassen, ohne lange Entwicklungszyklen durchlaufen zu müssen. Dies ermöglicht es Unternehmen, agiler zu sein und sich schneller an neue Marktgegebenheiten anzupassen.

Unternehmen stehen vor der Aufgabe, ihre Mitarbeiter zu "Citizen Developers" zu entwickeln. Inwiefern könnten Strategien zur Förderung dieser Fähigkeiten dazu beitragen, dass Mitarbeiter innovative Lösungen schaffen können, auch wenn sie nicht über tiefgreifende Programmierkenntnisse verfügen?

Jeder denkt natürlich, es sind die tiefgreifenden Programmierkenntnisse, die ein Unternehmen braucht. Aber die Wahrheit ist eine andere. Die Digitalisierungsaufgaben deutscher Unternehmen liegen nicht im Bereich Blockchain, Metaverse und wahrscheinlich auch primär nicht im Bereich KI. Was die meisten Unternehmen und Organisationen brauchen sind die Dinge wie, Papierformulare online auszufüllen, bei Prozessdokumentationen das Tablet anstatt einen Stift in die Hand zu nehmen und anfangen darüber nachzudenken, dass E-Mail-Kommunikation nicht das Ende der Digitalisierungsmöglichkeiten ist. Das Gros der Bedarfe in Unternehmen lässt sich mit herkömmlichen Mitteln wie Webseite, Benutzeroberfläche, Datenbank und Login-System vollkommen decken. Diese Funktionalitäten stellen überhaupt keine Herausforderung mehr für No-Code-Lösungen wie LoftOS dar. Unternehmen können hier zwar Schulungen und Ressourcen bereitstellen, um ihren Mitarbeitern den Umgang mit No-Code-Tools beizubringen, viel wichtiger ist jedoch, dass die Mitarbeiter einfach anfangen, mit den Tools zu arbeiten. Diese sind meist so intuitiv und einfach, dass sich der Umgang selbständig erlernen lässt. Am wichtigsten ist, eine Kultur der Kreativität und Zusammenarbeit zu fördern, in der Mitarbeiter ermutigt werden, innovative Lösungen selbst zu entwickeln und nicht die Lösungsfindung an den Kollegen eine Hierarchieebene höher abzugeben.

Die Förderung von Quereinsteigern ist eine wichtige Strategie, um den IT-Fachkräftemangel anzugehen. Wie können Unternehmen sicherstellen, dass "Citizen Developers" aus verschiedenen Hintergründen und Branchen erfolgreich in die IT einsteigen und einen Beitrag leisten können?

Es ist eine sehr saloppe und pauschale Antwort, aber trotzdem möchte ich sie so formulieren: Es braucht keine Quereinsteiger. Quereinsteiger kennen sich mit den Prozessen und Gegebenheiten im Unternehmen nicht aus. Als Folge muss die Fachabteilung den Quereinsteigern erklären, was zu tun ist, anstatt der eigenen IT-Abteilung. Also gewinne ich als Unternehmen gar nichts. Nein. Befähigen Sie Ihre Fachabteilung, die genau weiß, wie der Prozess zu laufen hat. Sobald sie Optimierungspotential erkennt, kann sie selbstständig mit wenigen Klicks die Lösung agil weiterentwickeln, anstatt Ewigkeiten auf Anpassungen von Dritten zu warten. Ich ermutige jeden CEO: Trauen Sie Ihren Mitarbeitern etwas zu. Fast jeder von ihnen kann heutzutage ein Smartphone bedienen und hat auch schon mal PowerPoint gesehen. Mehr braucht es nicht mehr. Geben Sie einem Großteil Ihrer Mitarbeiter eine Woche Zeit und es werden brauchbare Ergebnisse dabei rauskommen.

No-Code-Plattformen ermöglichen es Fachleuten, Anwendungen zu erstellen, ohne programmieren zu müssen. Wie können Unternehmen sicherstellen, dass die von "Citizen Developers" erstellten Anwendungen den erforderlichen Sicherheits- und Qualitätsstandards entsprechen?

Um sicherzustellen, dass von "Citizen Developers" erstellte Anwendungen den erforderlichen Sicherheits- und Qualitätsstandards entsprechen, können selbstverständlich Unternehmen klare Richtlinien und Best Practices für die Verwendung von No-Code-Plattformen entwickeln. Falls gewünscht, ist sogar eine Überprüfung und Freigabe von Anwendungen durch die eigene IT-Abteilung denkbar. Aber: No-Code-Anwendungen zu erstellen, die gegen grundlegende Datenschutzrichtlinien verstoßen, ist gar nicht so leicht. Nach dem Ansatz: Secure-by-design werden in den meisten Anwendungen die Möglichkeiten für Citizen Developers auf den Bereich des Legalen begrenzt. Natürlich können Mitarbeiter unbedacht Daten öffentlich zur Verfügung stellen, aber genauso gut können sie diese Daten an eine falsche E-Mail-Adresse senden. Auch hier gilt: Wenn ein Mitarbeiter sonst in seiner alltäglichen Arbeit gewissenhaft vorgeht, dann wird er das auch bei Erstellung von Webanwendungen tun.



Sven Pietsch ist Mitbegründer und Geschäftsführer der Innoloft GmbH aus Aachen. Neben Produktentwicklung ist er für die Bereiche Personal und Finanzen verantwortlich. Der Energietechniker erhielt 2017 seinen ersten Master-Abschluss in der Wärmetechnik an der Tsinghua Universität in Peking. Anschließend erlangte er einen weiteren Masterabschluss in Energietechnik an der RWTH Aachen.

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