1999/12 | Fachbeitrag | Autorensysteme

Mehrdimensionale Dokumente für mehrdimensionale Strukturen

von Alexander von Obert

 

Von Alexander

von Obert

 

Inhaltsübersicht:

 

 

 

Wer heute Gedanken zu Papier bringen will, sucht unwillkürlich

nach dem roten Faden. So handhaben wir es seit Generationen. Allerdings

ist uns in den letzten Jahren das Papier als primärer Informationsträger

abhanden gekommen. Der Bildschirm ist in so mancher Beziehung ein

schlechter Ersatz, er bietet aber auch ganz eigene Vorteile. Die

lassen sich aber bei Dokumenten bislang nur begrenzt nutzen. Speziell

gilt das für die Möglichkeit, mehrdimensionale Gliederungen

(mehrere "rote Fäden") zu nutzen und eine bestimmte

Information nur noch an einer Stelle zu halten.

 

 

Es ist nur

zu verständlich, dass neue Werkzeuge auf Herkömmlichem

aufbauen; wirklich neue Ideen brauchen Zeit zum Reifen. Wer sich

die ersten Gutenberg-Bibeln ansieht, entdeckt kaum Unterschiede

zu den Handschriften dieser Zeit – der entscheidende Unterschied

war die Möglichkeit zur vergleichsweise preiswerten und schnellen

Vervielfältigung. Die wertvollen Handschriften wurden auswendig

gelernt. Inhaltsverzeichnis, Index usw. waren deshalb überflüssig.

Es dauerte rund 100 Jahre, bis die preiswertere Herstellung der

Bücher das Auswendiglernen überflüssig machte, die

Bedürfnisse der Nutzer sich entsprechend wandelten und Inhaltsverzeichnisse

oder Indizes zum selbstverständlichen Bestandteil von Büchern

wurden.

 

 

 

 

Weg vom Papier

 

 

Einen ähnlichen

Schritt vollziehen wir gegenwärtig, ohne dass wir so viel Zeit

hätten: Das Buch mit seiner unveränderlichen Struktur

des “Vorne" und “Hinten" löst sich auf

in viele kleine Informationseinheiten. Aber noch bleibt meist die

herkömmliche lineare und hierarchische Struktur erhalten. Egal

ob Frontpage oder XML: Verstöße gegen die eine –

lineare – Struktur bleiben der Sonderfall. Das typische Ergebnis:

Sobald der Nutzer ein Detail gefunden hat und an einer anderen Stelle

im Dokument weitermachen will, muss er sich einige Dinge merken

oder notieren und die nächste Stelle in einem neuen Schritt

suchen.

 

 

 

Viele Website-Designs

versuchen, diese Suche so einfach wie möglich zu machen: Über

eine Navigationsleiste stehen die obersten Kapitel immer zur Verfügung,

und die Struktur der Website bleibt so flach wie möglich. Die

Suche wird so zwar müheloser, es bleibt aber eine Suche. In

vielen Fällen wüsste der Autor sehr wohl, wohin der Nutzer

eigentlich möchte. Allein: Kaum ein Werkzeug unterstützt

solche Querverbindungen gut genug. Spätestens wenn bei der

Pflege des Dokuments einzelne Knoten verändert oder entfernt

werden, kann kaum ein Werkzeug alle Querverbindungen jederzeit überblicken

und prüfen.

 

agcw picture

Der Stand der Technik: Die Navigationsleiste ermöglicht jederzeit den Zugriff auf die einzelnen Kapitel, die in sich möglichst flach strukturiert sind. Der Nutzer kann jede Seite über ein paar Mausklicks erreichen, aber er muss nach wie vor selbst suchen.

 

Wie sähe

die Alternative aus? Jede Seite müsste Verweise zu allen Seiten

enthalten, die den Nutzer im aktuellen Zusammenhang interessieren

könnten. Ein paar Beispiele:

 

 

  • Ein Software-Tutorial enthält Verweise zu den Detailbeschreibungen im Referenzteil, und der Referenzteil enthält wiederum Verweise auf das Tutorial.
  • Ein elektronischer Tagungsband enthält direkte Verweise zwischen den Vorträgen und ihrem Referenten – wieder in beiden Richtungen.

 

Konventionell

würde man Einführungshandbuch und Referenzhandbuch nebeneinander

legen und mit beiden Büchern parallel arbeiten – mit Fingern

in beiden Bänden. Am Bildschirm geht das nicht. Die Möglichkeit,

mit jeweils einem Mausklick hin- und herzukommen, sollte aber eine

gute Alternative sein.

 

 

 

Der elektronische

Tagungsband liefert sogar eindeutigen Mehrwert: Ein gut organisierter

Tagungsband enthält z.B. ein nach Themenschwerpunkten sortiertes

Vortragsverzeichnis und ein Personenregister. Die Möglichkeit,

mit einem Mausklick vom Vortrag zur Referentenvorstellung und mit

dem nächsten zu einem anderen Vortrag des gleichen Referenten

zu springen, ist da eindeutig komfortabler.

 

voca picture

Hier hat der Nutzer direkten Zugriff auf alles, was ihn unmittelbar interessieren könnte: Die Vortragsliste des Themenschwerpunkts (Track), die alphabetische Vortragsliste (samt einer Möglichkeit zum “Blättern") und die Referentenvorstellung. Der gesamte Kopf dieser Seite entstand automatisch aus der Dokumentenstruktur.

 

 

 

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Verweise statt Wiederholungen

 

 

Ein weiterer

Schritt ist, die sowieso nötigen Referenzen mehrfach auszuwerten:

Wenn das Autorenwerkzeug weiß, wer der Referent eines Vortrags

ist – warum sollte es den Namen des Referenten dann nicht gleich

selbst in den Vortrag einsetzen? Damit erreicht man einen enormen

Vorteil: Alle diese Verweise werden zwangsweise konsistent und lassen

sich auch viel leichter pflegen.

 

 

 

Nehmen wir

an, zwei der Referenten unserer Tagung hießen Hans Meier;

im Korrekturlauf stelle sich aber heraus, einer davon hieße

Hans Maier. Bei herkömmlichen Autorensystemen hätte der

Lektor das große Problem, die Vorträge der beiden Referenten

auseinander zu halten. Mit Hilfe des oben beschriebenen Referenzmechanismus

lassen sich Probleme wie dieses ganz leicht lösen: Die eine

Referentenvorstellung wird geändert; alle anderen Vorkommen

des Namens sind nur Referenzen, die automatisch folgen.

 

tcfor picture

Das Inhaltsverzeichnis der Zeitschriftenausgabe 2-99 entsteht allein aus der Struktur des Quelldokuments: Der Artikel CL16 stammt von Ursula Reuther www.tc-forum.org.

 

 

 

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Quell- und Ausgabeformate

 

 

 

Aus den letzten

Ausführungen wird klar, dass das Quellformat des Autorenwerkzeugs

und das Ausgabeformat kaum identisch sein können: Handelsübliche

Formate wie PDF, XML und HTML verfügen nicht über die

entsprechenden Mechanismen – weshalb XML-Systeme häufig

mit Datenbanken arbeiten und dadurch sehr aufwendig sind. Grundsätzlich

ist das nichts Neues: Winword-Dateien werden vorzugsweise mit Winword

be- und verarbeitet, um am Ende ausgedruckt oder nach HTML, XML

oder PDF umgewandelt zu werden.

 

 

Wenn das Autorensystem

aber, wie schon angedeutet, sehr viel mehr als bislang üblich

über das Dokument weiß, dann kann es auch in die Ausgabe

viel tiefer eingreifen:

 

 

  • Die Ausgabe in handelsübliche Formate kann recht individuell an Format oder Verwendungszweck angepasst werden, indem z.B. bestimmte Teile des Dokuments ausgeblendet werden.
  • Die Struktur des Dokuments kann unterschiedlich interpretiert werden.

 

Als Beispiel

für den letzten Punkt bietet sich die Korrektur- und Übersetzungsphase

einer Online-Dokumentation an:

 

  • Im normalen Einsatz besteht Online-Dokumentation aus vielen kleinen und kleinsten, unabhängigen Seiten. Für die Korrektur können z.B. alle Seiten dieses Typs alphabetisch sortiert und zu einem einzigen Dokument verbunden werden.
  • Für die Übersetzung des Dokuments kann man das Dokument nicht nur wie eben beschrieben linearisieren. Man kann dabei auch all jene Teile ausblenden, die ohnehin aus Referenzen automatisch erzeugt werden. Ergebnis: Der Übersetzer muss jeden Text im Quelldokument nur einmal übersetzen. Natürlich braucht er die offizielle Fassung als Referenz, aber er spart durchaus die Hälfte der Übersetzungsarbeit und gewinnt an Konsistenz.

 

 

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Realisierungsmöglichkeiten

 

 

Die

hier beschriebene Arbeitsweise ist nur mit wenigen Werkzeugen möglich.

Eines davon ist Schematext.

Damit wurden auch die hier gezeigten Beispiele erzeugt. Das ausgesprochen

eigenständige Konzept dieses Werkzeugs macht es schwer, eine

aussagekräftige Liste von Eigenschaften zu erstellen. Deshalb

sollen hier ein paar Hinweise auf das Funktionsprinzip genügen:

 

 

Schematext

arbeitet mit Strukturbeschreibung und -prüfung, ganz ähnlich

wie SGML/XML-Systeme mit einer DTD (document type definition). Allerdings

kennt diese Strukturbeschreibung nicht nur das Aneinanderreihen

und Verschachteln von Informationseinheiten, sondern auch Verweise.

 

 

  • Jedes Element (sowohl Informationseinheit als auch Verweis) erhält einen bestimmten Typ, d.h. es erhält eine genau beschriebene Aufgabe, einen genau beschriebenen Kontext und auch zahlreiche Eigenschaften.
  • Für unterschiedliche Zwecke (Ausgabeformate, Dokumentarten) können die Eigenschaften eines Elements unterschiedlich eingestellt werden. Verweise des Quelldokuments können je nach Bedarf z.B. unterdrückt, als Verweistexte formuliert oder zum Einkopieren der anhängenden Informationseinheit verwandt werden.
  • Zahlreiche Ausgaben können aus der Umgebung der jeweiligen Informationseinheit abgeleitet werden.

 

Je höher

der Automatisierungs- und Abstraktionsgrad eines Werkzeugs ist,

um so komplexer wird seine Konfiguration. Während sich Winword

mit ein paar VBA-Scripts recht einfach an die Anforderungen eines

Arbeitsplatzes anpassen lässt, erfordern SGML/XML-Autorensysteme

ziemlichen Aufwand und einschlägige Spezialisten. Auch Schematext

lässt sich vom durchschnittlichen Büroangestellten nicht

konfigurieren.

 

 

 

Völlig

anders sieht es aus, wenn der Spezialist solche komplexen Systeme

sauber konfiguriert hat und die Nutzer einweist: Es entsteht eine

Arbeitsumgebung, die optimal an den Anwendungsfall angepasst ist

und dem Nutzer ein komfortables, rationelles Arbeiten ermöglicht.

Ganz nebenbei werden die erzeugten Dokumente wartungsfreundlicher,

einheitlicher und konsistenter.

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