2019/1 | Fachbeitrag | Changemanagement

Komplexität des Wandels meistern mit Simplexity-Strategien

von Prof. Dr. Michael Reiss

Inhaltsübersicht:

Komplexitätshandhabung: Pflichtübung im Veränderungsmanagement

Die Kumulation zahlreicher technologischer Änderungen (z.B. Industrie 4.0, Internet der Dinge und Dienste, Künstliche Intelligenz, Smart Factory, Augmented Reality, cyber-physische Systeme, digitale Konvergenz, Predictive Analysis, Big Data, Web 2.0), innovativer Geschäftsmodelle (z.B. wissensintensive Geschäftsmodelle, Hybridprodukte, XaaS: Everything as a Service, Betreibermodelle, Cloud Manufacturing, Sharing-Modelle, Globalisierung, Mass Customization), Organisationsstrukturen (z.B. Open Innovation, Ecosystems, Co-Creation, Projektifizierung, Offshoring, Crowdsourcing) und Soft Factors (Compliance, Führung 4.0, agile und ambidextre Führung sowie virtuelle Arbeitswelten) mündet derzeit in einen hyperkomplexen Wandel [1]. Diese umfangreiche Liste aktueller Trends komplettiert den ebenfalls recht umfangreichen Katalog von dauerhaft relevanten Herausforderungen. Hierzu zählen z.B. Family-Life-Balance, Flexibilisierung durch Randbelegschaft und Arbeitszeitmodelle sowie das Resilienz- und Gesundheitsmanagement. Trotz markanter inhaltlicher Unterschiede haben alle diese Veränderungen einen gemeinsamen Nenner: Sie münden in eine Komplexitätssteigerung [2] [3] [4]. Damit wird das Meistern von Komplexität zu einem Erfolgsfaktor des Veränderungsmanagements. Gleichzeitig gehen die alarmierend hohen Misserfolgsraten von Veränderungsinitiativen teilweise auf das Konto von Defiziten in den Komplexitätskompetenzen.

Schwachstellen der Komplexitätshandhabung

Change Manager betreiben in der Regel eine implizite Handhabung von Komplexität, sei es ein Vorgehen in kleinen Schritten, der Abbau kognitiver Dissonanzen oder die Ergänzung der Hard Factors durch Soft Factors. Die expliziten Umgangsformen, bei denen also Komplexitätsmerkmale wie z.B. Teamgröße, Leitungsspannen und mehrdeutige Konzepte (z.B. Co-Producer, Intrapreneure, Frenemies) aus den Führungsprozessen „extrahiert“ werden, haben den Charakter einer eher lästigen Pflichtübung. Hier zeichnen sich zwei konträre Positionen ab: einerseits die Komplexitätsreduktion, andererseits die Komplexitätssteigerung. Dabei überwiegt die Komplexitätsreduktion. Man denke beispielsweise an Vereinfachungen durch Verschlankung (Lean Management), Mikrolernen oder Leitideen wie das KISS-Prinzip (Keep it short and simple). Deutlich seltener wird eine Komplexitätsanreicherung praktiziert, etwa in Gestalt von Plädoyers für Diversity, Blended Learning, 360-Grad Feedback (objektiviertes Rating durch mehrere Beurteiler) oder Humanressourcen-Portfolios sowie generisch durch das Problembewusstsein für die so genannte VUCA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität). Die Polarität der beiden Handhabungsformen signalisiert eine Orientierungslosigkeit in Sachen komplexitätsbewusstes Veränderungsmanagement. Erschwerend kommt hinzu, dass es gerade den impliziten Handhabungsformen an Ausgewogenheit und Ganzheitlichkeit mangelt: Einige sind insofern kontraproduktiv, als sie anstelle einer Reduktion eine Steigerung von Komplexität bewirken: So ruft eine strengere Reglementierung (z.B. der so genannten Schatten-IT) ein Reaktanzverhalten hervor, also Aktivitäten der kreativen Suche nach Ausweichmöglichkeiten und Schlupflöchern. Zudem induziert der punktuelle Kampf gegen eine lokale Komplexitätsvariante an anderen Stellen eine unkontrollierte Komplexitätsentwicklung: Der Reduzierung von Hierarchie-Ebenen mündet beispielsweise in eine Ausdehnung der Leitungsspannen.

Simplexity: Mix von Vereinfachung und Anreicherung

Als Alternative zu den einseitigen Handhabungsmustern der Komplexitätsvereinfachung bzw. der Komplexitätsanreicherung bietet sich deren Kombination an. Die offensichtlichen Schwächen einer Vorgehensweise lassen sich dabei durch die Stärken der anderen (zumindest teilweise) ausgleichen. Der ausgewogene und konstruktive Ansatz nutzt die Vorteile einer Kombination von Vereinfachung und Anreicherung, ohne dass sich die „Minus“- und die „Plus“-Operationen dabei neutralisieren würden. Als prägnante Kurzbezeichnung dieser Simplex-Complex-Kombination von Vereinfachung („Simplicity“) und Anreicherung („Complexity“) hat sich Simplexity etabliert [5]. Im Kern unterstützt dieser kombinierte Ansatz die komplexitätsbewussten Manager mit mehreren Simplexity-Gestaltungsmustern, wie die zwei nachfolgend erläuterten Beispiele veranschaulichen.

Optimierte Dynamik

Ein Simplexity-Ansatz überwindet sowohl die Phobie als auch die Euphorie in Sachen Wandel. Die Vereinfachungskomponente steht für eine Verstetigung, etwa nach dem Vorbild des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses. Zu den Stärken zählt die bessere Akzeptanz von Veränderungen, etwa infolge von Vertrauensschutz, Besitzstandwahrung oder einer Stressminderung durch Entschleunigung. Positiv ist auch die verbesserte Zeit- und Kosteneffizienz zu beurteilen. Dem stehen eine verzögerte Anpassung sowie der Verzicht auf eine Führungsrolle bei Veränderungstrends gegenüber. Die Anreicherungskomponente sorgt für eine hohe Veränderungsrate pro Zeiteinheit. Derartige Diskontinuitäten in Gestalt von Sprüngen oder Strukturbrüchen werden üblicherweise als „transformational“, „disruptiv“ oder „revolutionär“ bezeichnet. Auf der Stärkenseite findet sich die innovative Schaffung neuer Entwicklungspfade, die Schwachstellen liegen hingegen in der fraglichen Umsetzbarkeit infolge von Widerständen. Die kombinierte Simplexity-Dynamik zeichnet sich durch eine mittlere Veränderungsgeschwindigkeit (Pace) und einen mittleren Veränderungsumfang aus. Auf diesem Weg werden extreme Veränderungsmuster, sprich das Zementieren des Status-quo ebenso wie die radikale Change-Readiness, ausgeschlossen. Im äußerst breit gefächerten Spektrum von Kombinationsformen findet man zunächst die sequenzielle Mischung von Phasen der kontinuierlichen und der diskontinuierlichen Veränderung mit zwei Abfolgevarianten: Beim Einstellungswandel beispielsweise erfolgt erst eine komplexitätssteigernde Verunsicherung (Unfreezing) und Veränderung, an die sich mit dem Refreezing eine komplexitätsmindernde Stabilisierung anschließt. Umgekehrt wird bei Veränderungen nach dem Vorbild des Intervalltrainings dem komplexen Veränderungsprozess eine stabilisierende Ruhephase vorangestellt. Gewissermaßen die Krönung dieses Simplexity-Musters ist das rhythmisierte Timing von Veränderungen [1]. Im Gegensatz zum so genannten Event-Pacing, etwa den Mitmach-Strategien bei Hypes wie z.B. Industrie 4.0 [6], sorgt eine solche Terminierung von Veränderungsinitiativen („Time Pacing“) für günstigere Erfolgsaussichten. Auch bei Übergangsregelungen, also der zeitlichen Überlagerung von altem und neuem Konzept, handelt es sich um einen Simplexity-Ansatz: Die Kombination von Vereinfachung (verlängerte Gültigkeit der alten Regelung) und Anreicherung (paralleles Inkrafttreten der neuen Regelung) schafft temporär Wahlmöglichkeiten, die Widerstände abschwächen. Ferner lassen sich Anreicherung und Vereinfachung auf unterschiedliche Domänen des Veränderungsmanagements verteilen. Dabei wird eine lokale Anreicherung andernorts durch eine Vereinfachung kompensiert, so dass die Gesamtkomplexität gleich bleibt.

Optimierter Standardisierungsgrad

Standardisierung dient der Vereinfachung und fungiert dabei als Sammelbezeichnung für einheitliche Führungsstile, Konzernsprache, Entgelttarife (anstelle von getrennten Lohn- und Gehalttarifen), für Normalarbeitsverhältnisse sowie für Pauschalierung, z.B. eine Ergebnisverteilung nach Köpfen. Die Stärken liegen in der Gleichbehandlung und einer Effizienzsteigerung, etwa in Lernkurveneffekten durch routinisierte Vorgehensweisen. Im Schwachstellenkatalog dieser Simplex-Prozedur finden sich Gleichmacherei, Rasenmäherprinzip, Rigidität, Bürokratisierung und „08/15“-Konzepte. Ein umgekehrtes Stärken-Schwächen-Profil zeichnet die Komplexitätsanreicherung in Gestalt einer Individualisierung aus. Sie reicht von der biometrischen Authentifizierung anhand von Mitarbeiterdaten über die personalisierte Kommunikation in den unterschiedlichen Muttersprachen der Mitarbeiter bis zu den maßgeschneiderten Lösungen: Hier umfasst das Spektrum beispielsweise Laufbahn- und Vergütungskonzepte „à la carte“, die beitragsgerechte Verteilung eines Abteilungsergebnisses, personalisierte Ausbildungskonzepte sowie die Ablösung von Flächentarifverträgen durch Haustarifverträge. Individualisierte Maßnahmen besitzen zwar einerseits eine geringe Kosten- und Zeiteffizienz. Sieht man einmal vom Willkür-, Diskriminierungs- und Entsolidarisierungsrisiko solcher Einzelfalllösungen ab, besitzen sie jedoch andererseits ein hohes Akzeptanzpotenzial.

Ein Ausgleich der Schwächen durch die Stärken kann zunächst durch eine kombinierte Standardisierung-Individualisierung nach dem Vorbild der Mass Customization gelingen. Dabei werden einzelne Komponenten von Führungsmaßnahmen einer Standardisierung unterzogen. Hierzu greift man z.B. auf Bausteine von Verträgen (Klauseln) oder auf Massive Open Online Courses (MOOC) aus dem E-Learning zurück. Individualisierung wird durch eine fallspezifische Konfiguration dieser Standardkomponenten bewerkstelligt. Das zugrundeliegende Baukastenprinzip setzt allerdings voraus, dass die jeweiligen Konzepte modularisierungsfähig sind. Auf einer weiteren Kombinationsform von Standardisierung und Individualisierung basieren Entgelt-Mixe aus fixen und variablen Komponenten. Dabei ergeben sich die fixen Entgeltbestandteile aus standardisierten Entgeltstufen oder aus der Verteilung von Unternehmens-, Center- oder Teamerfolg zu gleichen Teilen auf die beteiligten Mitarbeiter. Variable Entgelte werden hingegen auf die individuelle Leistung bemessen.

Typisierung bildet eine dritte Simplexity-Variante. Hierbei werden Maßnahmen auf Belegschaftsgruppen wie z.B. Stamm- und Randbelegschaft zugeschnitten. In ähnlicher Form kombinieren die gängigen Parallel-Laufbahnkonzepte sequenziell eine einheitliche Anfangsphase (z.B. Trainee-Programm) für alle Mitarbeiter mit differenzierten nachfolgenden Karrierewegen für unterschiedliche Belegschaftsgruppen wie Fachkräfte und Führungskräfte.

Lessons learned und Lessons to be learned

Die impliziten Formen der Handhabung von Komplexität liefern unausgewogene und punktuelle Resultate, die für den Wandel wenig nützlich, nicht selten sogar schädlich sind. Besser eignen sich Simplexity-Ansätze als explizite Kombinationen von Vereinfachung und Anreicherung, weil sie der Ambivalenz von „guter“ und „schlechter“ Komplexität in nachvollziehbarer Manier Rechnung tragen. Sie liefern zwar keine Erfolgsgarantie, stellen aber eine brauchbare Heuristik dar. Als erfolgsrelevant erweist sich die jeweilige Dosierung von Vereinfachung und Anreicherung, etwa das quantitative Verhältnis von Episoden der kontinuierlichen und diskontinuierlichen Entwicklung. Der Erfolg eines Simplexity-Ansatzes hängt letztlich von der Kongruenz zwischen der Konfliktkomplexität und der Kompetenz in Sachen Komplexitätshandhabung ab. Die Anpassung der Komplexitätskompetenz erstreckt sich sowohl auf informationstechnologische Kompetenzen als auch auf personelle Kompetenzen. Die hierfür eingesetzten Maßnahmen der Personalentwicklung richten sich grundsätzlich auch auf das entsprechende Empowerment der Mitarbeiter, etwa im Rahmen eines Employee-Self Service-Ansatzes. Im Mittelpunkt steht jedoch der Aufbau von Handhabungskompetenzen bei den Change Managern. Sie sollten in den jeweiligen Entwicklungsprogrammen besser verankert werden.

Literatur

[1] Reiss, M.: Change Management: Erfolgsfaktor für den hyperkomplexen Wandel von Produktions- und Logistiksystemen, in: Corsten, H./ Gössinger, R./ Spengler, T. (Hrsg.): Handbuch Produktions- und Logistikmanagement in Wertschöpfungsnetzwerken, Berlin 2018, S. 124-146

[2] Scheinpflug, R./ Stolzenberg, K. (Hrsg.): Neue Komplexität in Personalarbeit und Führung, Wiesbaden 2017

[3] Bandte, H.: Komplexität in Organisationen, Wiesbaden 2007

[4] Stacey, R. D.: Strategic management and organizational dynamics: The challenge of complexity, 6. Aufl., Harlow 2011

[5] Pina e Cunha, M.; Rego, A.: Complexity, simplicity, simplexity, in: European Management Journal 28 (2010), S. 85–94

[6] Mertens, P./ Barbian, D./ Baier, S.: Digitalisierung und Industrie 4.0 – eine Relativierung, Wiesbaden 2017

 

 

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