2001/6 | Fachbeitrag | Wissensmanagement-Trends

Klein gewinnt!

von Gabriele Vollmar

 

Larry Prusak ist Executive Director

 

des von IBM unterstützten Institute for Knowledge Management

 

in Cambridge, USA. Er hat sich als einer der Ersten mit dem Thema

 

Wissensmanagement auseinandergesetzt und gilt vielen als der Erfinder

 

von Wissensmanagement.

 

 

 

Wir sprachen mit Larry Prusak über

 

die 11 Todsünden im Wissensmanagement, die Überlegenheit

 

föderalistischer Strukturen, das Aussterben der Dinosaurier

 

und die Romane Tolstois.

 

 

 

 

 

wm: Mr. Prusak, wann haben Sie angefangen,

 

sich mit Wissen und dem Management von Wissen zu beschäftigen

 

und warum?

 

 

 

Prusak: Ich beschäftige mich seit

 

etwa zehn Jahren mit Wissensmanagement. Als ich damit anfing, war

 

ich Unternehmensberater für Informationsmanagement. Aber je

 

länger ich mich damit beschäftigte, desto klarer wurde

 

mir, dass es nicht Daten und Informationen sind, die Menschen dazu

 

befähigen ihre Arbeit zu tun oder die Unternehmen einzigartig

 

machen, sondern dass es das Wissen ist – und zwar das Wissen

 

in den Köpfen.

 

 

prusak picture "Wissensmanagement heißt, den Kontakt zwischen den Menschen herzustellen"

 

 

wm: Aber was genau verstehen Sie unter

 

Wissen und dann auch unter Wissensmanagement?

 

 

 

Prusak: Wissen als solches gibt es nicht,

 

es kann immer nur Menschen geben, die etwas wissen. Außerhalb

 

des Menschen existieren lediglich Daten und Informationen. Deshalb

 

kann es auch keine Wissens-Software geben, egal was die Software-Hersteller

 

versprechen. Software-Tools können im Wissensumfeld lediglich

 

die Kommunikation zwischen den Menschen unterstützen. Und genau

 

das ist auch Wissensmanagement: den Kontakt zwischen Menschen herstellen.

 

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wm: Momentan erleben wir einen wahren

 

Wissensmanagement-Boom: Jedes Software-Tool, jede Beraterleistung

 

erhält das Etikett ‘Wissensmanagement‘. Fragt man

 

aber, was genau denn Wissensmanagement sei, kann diese Frage kaum

 

jemand beantworten, denn der Begriff ist noch immer sehr schwammig.

 

Liegt darin aber nicht die Gefahr, dass Mitarbeiter oder auch Führungskräfte,

 

die Wissensmanagement-Projekte gleich welcher Art angehen, schnell

 

frustriert werden und Wissensmanagement deshalb als eine weitere

 

nutzlose Management-Mode abtun?

 

 

 

Prusak: Vor zehn Jahren, als ich anfing

 

mich mit Wissensmanagement zu befassen, arbeitete ich bei Ernst

 

& Young. Dort waren die Wörter ‘Wissen‘ oder

 

gar ‘Wissensmanagement‘ verpönt, denn man dachte,

 

das könne kein Geld einbringen. Und Ernst & Young schien

 

zunächst Recht zu behalten, denn auf der ersten Konferenz,

 

die ich 1993 mithalf zu organisieren, waren nur 70 Teilnehmer. Inzwischen

 

hat sich das geändert; auf einer Vielzahl von Veranstaltungen

 

auf der ganzen Welt tauschen sich Tausende von Teilnehmern über

 

Wissensmanagement aus. Mittlerweile befasst sich übrigens auch

 

Ernst & Young mit dem Thema Wissensmanagement.

 

 

 

Natürlich ist Wissensmanagement ein heiß diskutiertes

 

und kommerziell ausgebeutetes Thema; wir leben nun einmal in einer

 

kommerziellen Welt. Aber deshalb dem Wissensmanagement die eigenen

 

Fehler und Enttäuschungen anzulasten, weil vielleicht die für

 

teures Geld eingekaufte so genannte Wissensmanagement-Software nicht

 

das hält, was sie verspricht, wäre, als ob man Jesus für

 

die Kreuzzüge verantwortlich machte.

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wm: Gehört das zu den elf Todsünden

 

im Wissensmanagement, über die Sie auch geschrieben haben?

 

 

 

Prusak: Ja. Außerdem sind da noch:

 

 

 

 

  • zu denken, es gäbe Wissen losgelöst vom Menschen
  • zu denken, Wissen könne in Datenbanken gespeichert werden
  • zu denken, Wissen könne produziert werden wie irgendein beliebiges Wirtschaftsgut
  • Dokumente und Wissen zu verwechseln
  • anzunehmen, Groupware könne Menschen dazu bringen zusammenzuarbeiten
  • und noch vieles mehr

 

 

wm: Mit welchen Hauptproblemen sehen

 

sich Unternehmen konfrontiert, die Wissensmanagement praktizieren

 

wollen?

 

 

 

Prusak: Massive Probleme entstehen z.B.,

 

wenn ein Unternehmen davon ausgeht, dass seine Wissensprobleme durch

 

Software gelöst werden könnten. Dann bleibt die bereits

 

angesprochene (Ent-)Täuschung im doppelten Wortsinn nicht aus.

 

 

 

Ein zweites Problem sind fehlende Ressourcen an Geld, Mitarbeitern,

 

aber auch Zeit und Freiräumen, um ein solches Projekt, wie

 

immer dies konkret aussehen mag, ins Leben zu rufen und am Leben

 

zu halten. Zum Beispiel sind Communities of Practice ein sehr effizientes

 

Wissensmanagement-Werkzeug. Um solche Gemeinschaften aber zu bilden

 

oder zusammenzuhalten, bedarf es so genannter Bindungs- und Brückenbauer.

 

Aber nicht jedes Unternehmen hat oder kennt Mitarbeiter mit den

 

nötigen sozialen und kommunikativen Fähigkeiten.

 

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"Wissen kann nicht transferiert werden, es kann lediglich diffundieren" prusak picture

 

 

wm: In Zeiten der Globalisierung machen

 

sich auch viele klein- und mittelständische Unternehmen auf

 

den Weg in den Weltmarkt und gründen Außenstellen in

 

der ganzen Welt. Ein direkter Erfahrungsaustausch unter den Mitarbeitern

 

ist dann nicht mehr möglich, Wissensmanagement wird in der

 

Folge zu einer Notwendigkeit. Aber sind nicht die meisten Wissensmanagement-Lösungen

 

schlicht überdimensioniert für diese Firmen?

 

 

 

Prusak: Ehrlich, es gibt keine Wissensmanagement-Lösungen!

 

Aber einem Unternehmer, der in diesem Dilemma steckt, würde

 

ich raten:

 

 

  • Lassen Sie jedes Büro oder jede Geschäftseinheit selbständig und eigenverantwortlich agieren!
  • Versuchen Sie nicht, alles zentral verwalten zu wollen!
  • Schaffen Sie eine föderalistische Struktur!

 

 

Um Wissen austauschen zu können, müssen Menschen in direktem

 

Kontakt stehen. Das ‘Wissen WAS‘ kann ich via Groupware

 

oder ähnlichen Hilfsmitteln austauschen, so haben ja auch wir

 

unseren Termin heute per E-Mail vereinbart. Wollte ich aber wissen,

 

WIE Sie ein deutsches Magazin zum Thema Wissensmanagement betreiben,

 

müsste ich Sie besuchen, lange Gespräche mit Ihnen führen

 

und Ihnen eine Zeit lang über die Schulter schauen. Wissen

 

kann nicht transferiert werden, es kann lediglich diffundieren.

 

 

 

Kürzlich wurden in den USA Studien zur optimalen Größe

 

von Gruppen oder aber auch Geschäftseinheiten angestellt: Es

 

hat sich gezeigt, dass eine Größe von 150 bis 200 Mitarbeitern

 

optimal ist. In einer größeren Gruppe kann Wissen nicht

 

mehr effizient geteilt werden. Das sehr erfolgreiche Start-up-Unternehmen

 

Viant, ein Internet-Consulter in den USA, gründet ständig

 

neue Geschäftseinheiten; sobald ein Büro die Grenze von

 

150 Mitarbeitern überschreitet, wird es geteilt.

 

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prusak picture "Wenn eine Organisation zu komplex wird, muss sie früher oder später agileren kleineren Unternehmen weichen"

 

 

wm: Die aktuelle Entwicklung geht doch

 

aber genau in die andere Richtung: Das Motto heißt immer größer,

 

immer mächtiger; Vodafone übernimmt Mannesmann, Daimler-Benz

 

fusioniert mit Chrysler usw.

 

 

 

Prusak: In der Tierwelt sind Tiere, die

 

zu groß werden, wie z.B. die Dinosaurier, irgendwann nicht

 

mehr lebensfähig und werden von den kleinen Tieren verdrängt.

 

Ähnliches geschieht in der Wirtschaftswelt: Organisationen,

 

die über ein bestimmtes Maß hinaus wachsen, werden irgendwann

 

zu komplex, um noch sinnvoll geführt werden zu können.

 

Denn letztendlich werden Organisationen immer nur und immer noch

 

von Menschen geführt und der Mensch ist und bleibt ein Wesen

 

mit beschränkter intellektueller Aufnahmefähigkeit und

 

einem ebenso beschränkten Vorstellungsvermögen. Wenn also

 

eine Organisation zu komplex wird, um sie noch durchschauen und

 

verstehen zu können, ist sie nicht mehr regierbar und muss

 

früher oder später agileren kleineren Unternehmen weichen.

 

 

 

wm: Aber was ist mit den viel beschworenen

 

lernenden Organisationen, können diese sich nicht quasi selbst

 

fortbilden und evolutiv weiterentwickeln?

 

 

 

Prusak: Nur Menschen, nicht aber abstrakte

 

Gebilde wie Organisationen sind überhaupt in der Lage zu lernen.

 

Wenn die Menschen in einer Organisation ihren Wissensstand erhöhen,

 

erhöhen sie gleichzeitig den Wissensstand dieser Organisation.

 

 

 

Die amerikanische Handelskammer hat bei sieben großen amerikanischen

 

Firmen, wie z.B. Boing, das Lernverhalten der Mitarbeiter untersucht

 

und dabei festgestellt, dass mehr als 80% des Wissens über

 

informelles Lernen durch Zuschauen, Nachmachen, Learning by doing

 

usw. erworben wird. Die riesigen Ausgaben, die momentan für

 

Trainings etc. gemacht werden, sind unter diesem Gesichtspunkt mehr

 

als zweifelhaft.

 

 

 

So habe ich einmal ein Unternehmen beraten, das sich Sorgen darum

 

machte, dass nur eine Handvoll älterer Techniker mit einem

 

bestimmten technischen Problem umgehen konnte. Das Unternehmen hat

 

sich die entsprechende Weiterbildung aller jüngeren Techniker

 

unterm Strich Millionen kosten lassen. Dabei hatten die älteren

 

Techniker bei einem Bier ihr Wissen schon längst geteilt!

 

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wm: Wenn aber nur die Menschen innerhalb

 

einer Organisation, nicht aber diese selbst Wissensträger sein

 

können, läuft ein Unternehmen immer noch Gefahr, mit einem

 

scheidenden Mitarbeiter wertvolles Wissen zu verlieren.

 

 

 

Prusak: Bei diesem Schreckensszenario

 

wird außer Acht gelassen, dass Arbeiten eine soziale Tätigkeit

 

ist. Wenn ein Mitarbeiter ein Unternehmen verlässt, wird man

 

feststellen, dass seine Kollegen alleine schon durch die Tatsache

 

des Zusammenarbeitens normalerweise seine Arbeit und damit auch

 

sein Know-how recht gut beherrschen. Wichtig ist trotzdem, die Personalfluktuation

 

so gering wie möglich zu halten und Gemeinschaften nicht durch

 

zu häufige Wechsel ständig auseinander zu brechen.

 

 

 

wm: Aber das häufige Wechseln des

 

Unternehmens ist doch gerade das, was die moderne Arbeitsbiografie

 

heute und wohl noch mehr in Zukunft auszeichnet.

 

 

 

Prusak: Menschen, die häufig ihr

 

berufliches Umfeld wechseln, sind meist in stabilen individuellen

 

Netzwerken fest verankert. Es bleibt aber die Tatsache, dass eine

 

hohe Fluktuation für ein Unternehmen auf lange Sicht tödlich

 

ist.

 

 

 

wm: Nichtsdestotrotz sind unsere Arbeitswelt,

 

aber auch unsere Lebenswelt zunehmend durch raschen und diskontinuierlichen

 

Wandel gekennzeichnet. Diskontinuität aber entspricht nicht

 

unbedingt der menschlichen Natur.

 

 

 

Prusak: Richtig. Deshalb müssen

 

Unternehmen, die einem sehr raschen Wandel unterworfen sind, trotzdem

 

für ihre Mitarbeiter stabile Umgebungen im Kleinen schaffen.

 

Dann werden diese Mitarbeiter auch über einen längeren

 

Zeitraum bei den Unternehmen bleiben.

 

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wm: Wir sind hier in Brüssel, Mr.

 

Prusak. Stellen Sie Unterschiede zwischen der amerikanischen und

 

europäischen Kultur und Mentalität in Bezug auf Wissensmanagement

 

fest?

 

 

 

Prusak: Die Europäer scheinen mir

 

aufgeschlossener im Hinblick auf Zweideutigkeit und weniger technologiehörig.

 

Die Amerikaner glauben noch immer, mit der richtigen Technik alle

 

Probleme lösen zu können. Dies mag daran liegen, dass

 

die meisten Führungskräfte Techniker oder Buchhalter sind,

 

d.h. sie haben gelernt, dass es auf alles eine eindeutige Antwort

 

gibt. Das ist aber nicht der Fall!

 

 

 

Früher habe ich Bewerber bei Einstellungsgesprächen immer

 

nach den Büchern gefragt, die sie beeinflussen. Die Antwort

 

auf diese Frage oder fast noch mehr das Schuldig-Bleiben einer Antwort

 

sind sehr aussagekräftig.

 

 

 

wm: Welche Bücher haben denn Sie

 

selbst beeinflusst, Mr. Prusak?

 

 

 

Prusak: Nun da sind z.B. die Bücher

 

von Bertram Russell, Max Weber, Karl Marx oder Leo Tolstoi.

 

 

 

wm: Hat auch Tolstoi Ihre Sicht auf das

 

Wissensmanagement geprägt?

 

 

 

Prusak: Nehmen Sie "Krieg und Frieden"

 

und wie Tolstoi darin die Schlacht bei Waterloo beschreibt, d.h.

 

er beschreibt sie eigentlich gar nicht, sondern lässt uns nur

 

teilhaben an den Erlebnissen und subjektiven Wahrnehmungen seiner

 

Figuren. Vor dem inneren Auge des Lesers entsteht also keineswegs

 

ein Schlachtenpanorama, sondern der Leser gewinnt vielmehr den Eindruck

 

eines heillosen Durcheinanders, dem die Figuren ausgeliefert sind,

 

weil sie es nicht durchschauen können.

 

 

 

Sich der eigenen eingeschränkten Wahrnehmung in komplexen

 

Situationen bewusst zu sein, das ist vielleicht das, was Manager

 

von Tolstoi lernen sollten.

 

 

 

wm: Mr. Prusak, herzlichen Dank für

 

das Gespräch.

 

 

 

 

 

Das Gespräch führte Gabriele Vollmar.

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