2001/9 | Fachbeitrag | Wissensmanagement-Ansätze

Eine integrative Sicht auf das Managen von Wissen

von Gabi Reinmann-Rothmeier

 

Von Gabi

 

Reinmann-Rothmeier

 

 

Inhaltsübersicht:

 

 

 

Stellen Sie sich vor, Sie sollen als

 

frisch gebackener Wissensmanager Ihren Mitarbeitern aus dem Stand

 

beschreiben, was Sie eigentlich machen, wenn Sie Wissen managen.

 

Hätten Sie eine konsensfähige Sprachregelung für

 

Wissen, Managen und Wissensmanagement parat? Viele Probleme fangen

 

genau da an: bei einer mangelnden gemeinsamen Verständigungsgrundlage

 

zwischen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen.

 

 

 

Wenn es um das Management von Wissen

 

geht, kann das Münchener Modell [1] eine

 

solche Verständigungsgrundlage schaffen und als Orientierungsrahmen

 

für Organisationen und Individuen dienen. Die Stärke dieses

 

Modells liegt im integrativen Verständnis von Wissen und Managen

 

sowie in der Verbindung von organisationalem und individuellem Lernen.

 

Im Gegensatz zu anderen Wissensmanagement-Ansätzen steht das

 

Münchener Modell für eine pädagogisch-psychologische

 

Sicht auf das Managen von Wissen und akzentuiert Lernen als wettbewerbsdifferenzierenden

 

Faktor der Zukunft.

 

 

 

 

Kurz gefasst:

  • Wissen ist sowohl Objekt als auch Prozess, seine beiden Extremzustände sind Informationswissen und Handlungswissen.
  • Wissensmanagement muss den ganzen Raum zwischen diesen Extremen abdecken.
  • Beim Wissensmanagement sollten das algorithmische und das heuristische Managementmodell miteinander kombiniert werden.
  • Eine lernende Organisation kann dann entstehen, wenn der individuelle und organisationale Lernzyklus miteinander verbunden werden.
  • Die vier wesentlichen Prozesse im Umgang mit Wissen sind Wissenpräsentation, Wissensnutzung, Wissenskommunikation und Wissensgenerierung.
  • Diese Wissensprozesse lassen sich durch das Gestalten von Rahmenbedingungen sowie das Fördern der beteiligten Menschen optimieren.
 

 

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Was ist ist Wissen?

 

 

Seit langem ist in unseren Köpfen die Vorstellung vom Wissen

 

als einem Besitz verwurzelt, der Macht verleiht, akkumulierbar und

 

übertragbar ist. Allmählich aber entwickelt sich parallel

 

dazu eine Vorstellung von Wissen als einer Art Prozess. Wissen hat

 

heute also mindestens zwei Bedeutungen: Wissen als Objekt, z.B.

 

wissenschaftliche Erkenntnisse, die in einer Enzyklopädie festgehalten

 

sind, und Wissen als Prozess, z.B. langjährige Erfahrung, die

 

sich im Tun eines Experten zeigt. Wissen als Prozess geht letztlich

 

in Handeln über, während Wissen als Objekt eng an die

 

Information heranrückt.

 

 

 

Im Münchener Modell werden Informations- und Handlungswissen

 

als zwei extreme Zustände von Wissen interpretiert. Diese spannen

 

ein Feld auf, in dem viele Variationen von Wissen möglich sind,

 

die wiederum alle Gegenstand des Wissensmanagements sein können.

 

Veranschaulichen lässt sich dieses Wissensverständnis

 

an einer einfachen Analogie: Wasser ist die häufigste chemische

 

Verbindung und bedeckt als Flüssigkeit ca. 3/4 der Erdoberfläche.

 

Neben dem flüssigen Zustand gibt es zwei weitere Zustandsformen

 

von Wasser: fest als Eis und gasförmig als Wasserdampf. Übertragen

 

auf den Wissensbegriff heißt das: Wissen ist etwas, das uns

 

in unserer Gesellschaft allerorten begegnet und beeinflusst. Dabei

 

ist Wissen ständig in einer Art Fließbewegung und kann

 

zu "festem" Informationswissen werden, das sich gut handhaben,

 

strukturieren und speichern lässt; es kann aber auch zu "gasförmigem"

 

Handlungswissen werden, das sich dem direkten Zugriff entzieht,

 

sich schnell verflüchtigt und Energien erzeugt. Beides gehört

 

zu unserem Wissensalltag.

 

 

Abb1_reinmann picture
Die Aggregatszustände des Wissens

 

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Was heißt Management?

 

 

Häufig vergleicht man den Manager mit einem Steuermann. "Kybernetes"

 

ist das altgriechische Wort für Steuermann und so ist es wohl

 

kein Zufall, dass die gängige Vorstellung von Management einem

 

kybernetischen Regelkreismodell gleicht: Man versucht, einen bestimmten

 

Sollzustand zu erreichen oder aufrecht zu erhalten und ablaufende

 

Vorgänge zu berechnen. Ein solches Denken in Berechnungsformeln

 

(algorithmisches Modell) ist in Bezug auf Management weder vollkommen

 

irreführend noch befriedigend.

 

 

 

Wenn es um die in weitestem Sinne technische Seite der Organisation

 

(z.B. Infrastrukturen oder Geschäftsmodelle) geht, ist ein

 

algorithmisches Denken durchaus funktional: Management im Sinne

 

von Organisationsführung gehorcht in weiten Teilen den Gesetzen

 

berechenbarer technischer Systeme. Wenn es aber um die menschliche

 

Seite der Organisation geht, stößt man mit diesem Denkmodell

 

an Grenzen: Management im Sinne von Mitarbeiterführung gehorcht

 

den Gesetzen biologischer und ökologischer Systeme, deren Verhalten

 

zwar determiniert, aber nicht vorhersehbar, sondern mit Unsicherheit

 

behaftet ist. Hier kommt man eher mit einem Denken in Faustregeln

 

(heuristisches Modell) weiter.

 

 

 

Beim Wissensmanagement hat man es mit beiden Systemarten zu tun.

 

Naheliegend ist daher ein integratives Verständnis von Management

 

[2], in dem das algorithmische und heuristische

 

Denkmodell miteinander kombiniert werden: Management als Gestaltung

 

evolutionsähnlicher Prozesse, als Balanceakt zwischen Moderieren

 

und Kontrollieren, zwischen Metasteuerung und direkter Regelung.

 

 

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Lernen als Leitidee

 

 

Die Entwicklung hin zu einer lernenden Organisation ist im Münchener

 

Modell die Zielrichtung des Wissensmanagements. Notwendige Bedingungen

 

für das Lernen einer Organisation sind die Lernbereitschaft

 

und die Lernfähigkeit der beteiligten Individuen, die den "Ort

 

des Wandels" [3] bilden, denn: Individuelle

 

Fähigkeiten und Fertigkeiten sind immer auch die Grundvoraussetzung

 

für Veränderungen in der Organisation. Daneben sind das

 

Bewusstsein der Organisationsmitglieder und deren Sensibilität

 

für neue Anforderungen weitere Treiber des Wandels. Die Basis

 

für kulturelle Veränderungen sind letztlich neue Haltungen

 

und Überzeugungen, also das, was Organisationsmitglieder wollen

 

und glauben.

 

 

 

Einen solchen individuellen Lernzyklus in Gang zu setzen, ist jedoch

 

alles andere als leicht, denn Menschen sind bekanntlich sehr veränderungsresistent.

 

Und so ist es sinnvoll, die Organisation als "Ort des Handelns"

 

in die Pflicht zu nehmen und schrittweise einen organisationalen

 

Lernzyklus anzustoßen. Am Anfang steht meist eine Leitidee.

 

Zur Realisierung einer Leitidee sind Konzepte und Methoden erforderlich;

 

deren Wirkung aber kommt oft erst durch neue Organisationsstrukturen

 

zur Entfaltung. Eine lernende Organisation kann dann entstehen,

 

wenn der individuelle und organisationale Lernzyklus miteinander

 

verbunden werden. Diese Verbindung ist im Münchener Modells

 

ein zentrales Element.

 

 

Abb2_reinmann picture
Der individuelle und der organisationale Lernzyklus

 

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Vier Phänomenbereiche im Umgang mit Wissen

 

 

Das Herz des Münchener Modells bilden vier Phänomenbereiche,

 

die verschiedene Wissensprozesse bündeln:

 

 

  • die Repräsentation von Wissen
  • die Nutzung von Wissen
  • die Kommunikation von Wissen
  • die Generierung von Wissen

 

 

Diese Phänomenbereiche implizieren neben organisationalen

 

und technischen Aspekten auch psychologische Voraussetzungen und

 

pädagogische Begleitprozesse, die häufig vernachlässigt

 

werden [4].

 

 

 

 

 

Wissensrepräsentation

 

 

 

Prozesse der Wissensrepräsentation machen Wissen sichtbar,

 

zugänglich, transportierbar und besser begreifbar. Oder um

 

im Bild der Wasser-Analogie zu sprechen: Repräsentationsprozesse

 

zielen darauf ab, Wissen einzufrieren, für bestimmte Zeit zu

 

konservieren und zum Auftauen bereit zu halten.

 

 

Abb3a_reinmann picture

 

 

Somit ist Wissensrepräsentation mit einer Bewegung verbunden,

 

in der Wissen in Richtung Information geht. Damit es zu Prozessen

 

der Wissensrepräsentation kommen kann, müssen Menschen

 

bereit sein, ihr Wissen nach außen zu geben. Das aber kann

 

mit Ängsten vor Macht- und Kompetenzverlust oder Austauschbarkeit

 

verbunden sein. Zur Bereitschaft, das eigene Wissen offen zu legen,

 

muss die Fähigkeit kommen, Wissen explizit zu machen. Dazu

 

gehören Kenntnisse über das eigene Wissen (Metawissen)

 

sowie z.B. Verbalisierungs- und Visualisierungsfähigkeiten.

 

 

 

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Wissensnutzung

 

 

 

Prozesse der Wissensnutzung machen Wissen anwendbar und lassen

 

dem Wissen Entscheiden und Handeln folgen. Oder um im Bild der Wasser-Analogie

 

zu bleiben: Nutzungsprozesse zielen darauf ab, Wissen aufsteigen

 

zu lassen, Energien zu erzeugen und an geeigneten Stellen wieder

 

zum Kondensieren zu bringen.

 

 

Abb3b_reinmann picture

 

 

Somit ist Wissensnutzung mit einer Bewegung verbunden, in der Wissen

 

in Richtung Handeln geht. Damit es zu Prozessen der Wissensnutzung

 

kommen kann, müssen Menschen die potenzielle Trägheit

 

des Wissens überwinden können und wollen. Notwendig für

 

die Wissensnutzung sind Motivation zum Handeln, die Überwindung

 

eingeschliffener Routinen sowie das Wahrnehmen und Ausschöpfen

 

von Handlungsspielräumen.

 

 

 

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Wissenskommunikation

 

 

 

Prozesse der Wissenskommunikation führen dazu, dass Wissen

 

ausgetauscht, geteilt, vernetzt und in Bewegung gebracht wird. Wenn

 

man wieder die Wasser-Analogie beanspruchen will, kommt man zu dem

 

Schluss, dass Kommunikationsprozesse Wissen zum Fließen bringen

 

und dafür sorgen, dass sich dieser Fluss ungehindert fortbewegen

 

und ausbreiten kann.

 

 

Abb3c_reinmann picture

 

 

Somit ist Wissenskommunikation Wissensbewegung pur, die in jedem

 

Wissenszustand möglich ist. Damit es zu Prozessen einer lebendigen

 

Wissenskommunikation kommt, müssen Menschen das Gefühl

 

haben, dass dieser Austausch mit gegenseitigem Geben und Nehmen

 

und persönlichem Nutzen verbunden ist. Vertrauen, Sympathie

 

und soziale Fähigkeiten sind hier ebenso wichtig wie Motivation

 

und Anreizsysteme zum gegenseitigen Austausch.

 

 

 

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Wissensgenerierung

 

 

 

Prozesse der Wissensgenerierung bewirken die Verarbeitung vom Rohstoff

 

Information zu handlungsrelevantem Wissen und die Entwicklung neuer

 

Ideen. Unter Rückgriff auf die Wasser-Analogie hieße

 

das: Generierungsprozesse sorgen dafür, dass dem fließenden

 

Wasser seine Quelle erhalten bleibt, dass der Fluss nicht versiegt.

 

 

 

 

Abb3d_reinmann picture

 

 

Somit ist Wissensgenerierung die Basis jeder Wissensbewegung, die

 

den Stoff hervorbringt, der bewegt werden soll. Die Generierung

 

neuen Wissens ist nur möglich, weil Menschen in der Lage sind,

 

aus Erfahrung zu lernen und weil sie von ihrem Wesen her neugierig

 

sind. Kreativität, Denken, Lernen und Problemlösen, aber

 

auch Selbst- und Fremdbild haben einen oft unterschätzen Einfluss

 

auf die Wissensgenerierung.

 

 

 

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Wissensprozesse der genannten Art lassen sich nicht erzwingen, aber

 

in der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens durch Managementprozesse,

 

also durch das Gestalten von Rahmenbedingungen sowie das Fördern

 

der beteiligten Menschen optimieren [5]. Technische,

 

organisationale wie auch pädagogisch-psychologische Maßnahmen

 

müssen dabei der Leitidee folgen, Lernprozesse zu unterstützen,

 

und gleichzeitig diejenigen Probleme angehen, die im konkreten Fall

 

vorliegen und einen professionelleren Umgang mit Wissen erforderlich

 

machen.

 

 

 

Ein Wissensmanager wäre allerdings schlecht beraten, würde

 

er bei seinen Aktionen den Kollegen aus den Bereichen Personal und

 

Technik aus dem Weg gehen: Erst eine enge Kooperation zwischen Wissens-,

 

Informations- und Kompetenzmanagement kann dem hier skizzierten

 

Verständnis von Wissen und Management gerecht werden und die

 

skizzierten Wissensprozesse erfolgreich initiieren und gestalten.

 

 

 

Wundern Sie sich nicht, wenn die gleichen Mitarbeiter, mit denen

 

Sie eben noch um gemeinsame Bedeutungen beim Wissensmanagement gerungen

 

haben, in drei Jahren von Lernmanagement sprechen. Wenn Sie als

 

Wissensmanager mit dem Münchener Modell gearbeitet, dabei Informatiker,

 

Personaler und Strategen an einen Tisch gebracht und das erklärte

 

Ziel des Wissensmanagements ernst genommen haben, dürfen Sie

 

vielleicht sogar den unspektakulären Begriff des Lernens bald

 

wieder selbstbewusst in den Mund nehmen.

 

 

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Seitenblick

 

 

Möchten Sie mehr über das Münchener Modell wissen?

 

Einen ausführlichen, sehr lesenswerten Hintergrund-Beitrag

 

der Autorin haben wir hier als PDF-Datei

 

(363 kB) für Sie bereit gestellt.

 

 


Anmerkungen/Literatur

 

 

[1] Entstanden ist das Modell aus langjähriger

 

konzeptioneller und empirischer Arbeit am Institut für Empirische

 

Pädagogik und Pädagogische Psychologie der Ludwig-Maximilian-Universität,

 

München, Lehrstuhl Prof. Dr. Mandl.

 

 

 

[2] Schneider, U.: Management als Steuerung

 

des organisatorischen Wissens. In: Schreyögg, G. (Hrsg.): Funktionswandel

 

im Management: Wege jenseits der Ordnung. Berlin 2000, S. 79-110.

 

 

 

[3] Senge, P.M./Kleiner, A./Smith, B./Roberts,

 

C./Ross, R.: Das Fieldbook zur Fünften Disziplin. Stuttgart

 

1997.

 

 

 

[4] Reinmann-Rothmeier, G./Mandl, H.: Individuelles

 

Wissensmanagement. Strategien für den persönlichen Umgang

 

mit Information und Wissen am Arbeitsplatz. Bern 2000.

 

 

 

[5] Reinmann-Rothmeier, G./Mandl, H./Erlach,

 

C./Neubauer, A.: Wissensmanagement lernen – ein Workshop- und

 

Selbstlern-Buch. Weinheim (in Druck).

 

 

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