2001/1 | Editorial | Wissensmanagement

Mobilität, Flexibilität, Virtualität oder das Verlangen nach Orten der Orientierung

von Wolfgang Sturz

Kennen Sie auch den jungen Mann, der zwischen Tauben auf dem Markusplatz in Venedig sitzt, via Brille die Aktienkurse verfolgt, mittels Headset irgendwo auf der Welt kauft und verkauft und dann per Handy seiner Frau oder Freundin mitteilt, er komme jetzt mit dem nächsten Flugzeug nach Hause? Sicher, das sind die für den Werbespot schöngefärbten Zukunftsvisionen eines Technologiekonzerns. Aber sieht so die Zukunft unserer Arbeit aus? Und ist diese Zukunft so rosig, wie uns der Spot glauben machen möchte?

Sicher ist, dass unsere Arbeitswelt einer enormen Dynamik unterworfen ist und dass die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Lernzeit oder auch Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen. Neue Technologien machen es möglich und die Beschleunigung und gleichzeitige Globalisierung der Märkte machen es notwendig. Mitarbeiter, und zwar in einer ersten Phase vor allem die Wissensarbeiter, werden zunehmend zu Nomaden im virtuellen Büro, die fast zu jeder Zeit an jedem Ort in der Lage sind ihrer Arbeit nachzugehen.

Dadurch wird aber auch das Unternehmen selbst immer mehr zu einer virtuellen Organisation, deren Mitarbeiter unter Umständen auf der ganzen Welt verteilt arbeiten und sich hauptsächlich in virtuellen Räumen treffen und austauschen und eben nicht mehr in der Unternehmenszentrale in...

Die Strukturen innerhalb der Unternehmen werden aufgebrochen, dadurch nach heutigem Verständnis auch chaotischer, anarchistischer (?). Hierarchien werden abgelöst von (virtuellen) Netzwerken, von nur temporär bestehenden Teams oder so genannten Communities, in denen die Angestellten des Unternehmens mit Freiberuflern und Mitarbeitern anderer Unternehmen, mit denen über die Unternehmensgrenzen hinweg kooperiert wird, mit Kunden und Lieferanten zusammenarbeiten. Die Grenzen der Organisation werden durchlässig.

Das Aufweichen starrer Strukturen macht die Unternehmen flexibel, so dass sie sich rasch an rasant sich ändernde Rahmenbedingungen und Marktgegebenheiten anpassen können. Ebenso müssen aber auch die Mitarbeiter, die Menschen sich rasch an immer schneller sich ändernde Arbeits- und Lebensbedingungen anpassen. Neue Fähigkeiten und Kompetenzen müssen erworben werden ? und zwar auch dies zu jeder Zeit an jedem Ort. Das Lernen als solches wird dabei mehr und mehr in das Arbeiten integriert; Arbeitszeit ist immer auch Lernzeit. Lernen kann dann nicht mehr in Form von stunden- oder gar tagelangen Seminaren stattfinden, sondern zeitnah und ad hoc in Form von kleinen Just-in-Time-Lerneinheiten, die möglichst genau auf eine konkrete Problemstellung der „eigentlichen“ Arbeit Antwort geben. E-Learning ist hier sicher ein Trend mit noch hohem Entwicklungs-Potenzial.

Das verlangt vom Wissensarbeiter ein sehr hohes Maß an Selbstdisziplin. Die gewonnene Zeitsouveränität, um nur ein Beispiel zu nennen, wird z.B. dann zur Falle, wenn die Frage nicht mehr ist „Wann fange ich an zu arbeiten?“, sondern „Wann schaffe ich es, damit aufzuhören?“ Ebenso erfordert die Mobilität ein hohes Engagement im Hinblick auf die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen über große Entfernungen hinweg. Wer fragt in unserem Werbespot nach der Familie unseres erfolgreichen jungen Mannes, die darauf wartet, dass er irgendwann per Flugzeug aus Venedig zurückkommt ? wenn er denn eine Familie hat?

Die gewonnene Freiheit muss auch ausgehalten werden. Schwindende Strukturen bedingen auch immer einen Verlust an Orientierung. Und dies keineswegs auf unsere Arbeitswelt beschränkt, denn Dynamisierung und Flexibilisierung sind Entwicklungen, die unsere ganze Gesellschaft betreffen - und damit auch die Politik als gesellschaftsformende Macht in die Pflicht nehmen. Die Gemeinde Sternenfels, über die Sie in unserem Interview mehr erfahren, schreibt z.B. auf Ihrer Website: „Wir meinen besorgt: Der nächste Zeitschritt wird durch Ortslosigkeit gekennzeichnet sein und durch das Verlangen Orte der Orientierung zu haben.“ Bei aller Flexibilität, Mobilität und Virtualität sollten wir uns ? ganz altmodisch ? um diese Orte bemühen.

Gute Gedanken beim Lesen unserer aktuellen Ausgabe wünscht Ihnen Ihr

Wolfgang Sturz

DR.-Ing. Wolfgang Sturz

Herausgeber

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