Fachbeiträge

Ausgabe 3 / /2000
Fachbeitrag Kommunikation

Der Faktor Mensch: Wissensmanagement im Spannungsfeld zwischen Kultur und Technik

von Wolfgang Sturz

Viele Wissensmanagement-Projekte waren in der Vergangenheit durch einen technikgetriebenen Ansatz zum Scheitern verurteilt – die Unternehmenskultur wurde vernachlässigt, der Faktor Mensch blieb unberücksichtigt. Das Fazit von Wolfgang Sturz: Echtes Wissensmanagement ist eine Unternehmenskultur, die EDV kann dazu allenfalls die notwendigen Werkzeuge liefern.

Von

Wolfgang Sturz

Inhaltsübersicht:

Eine provozierende Überschrift. Denn das moderne Wissensmanagement bewegt sich tatsächlich zwischen den beiden Antipoden Kultur und Technik und sitzt damit gleichsam zwischen allen Stühlen.

Gleichzeitig ist es aber auch eine zur Diskussion anregende Aussage, zu einer Diskussion, die ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Wissen um das Wissensmanagement sein kann.

Die Gegensätze in der Überschrift könnten nicht größer sein: Hier die Kultur mit dem Geisteswissenschaftler, der in der Kultur lebt und aus der Kultur, sei sie historisch oder aktuell, Impulse für seinen Weg zur Erkenntnis sucht. Dort die Technik, die alles erklärbar und berechenbar erscheinen lässt.

Hier der Kulturfreak, der auf eine einsame Insel am liebsten seinen Shakespeare mitnehmen würde. Dort der Online-Freak, überzeugt, mit seinen zehn Fingern und einer an das Internet angeschlossenen Tastatur Zugriff auf das gesamte Wissen der Menschheit zu haben.

Und dahinter - nicht zu vergessen - ein Hochschulsystem, das jeden dieser beiden Typen auf seinem Scheuklappenkurs bestärkt, statt durch einen Dialog dem fruchtbaren Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen Entfaltungsfreiheit zu bieten.

Deshalb scheint die Frage gerechtfertigt: Sollte und vor allem kann Wissensmanagement den Spagat zwischen Kultur und Technik, zwischen Mensch und Maschine überhaupt leisten?

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Von der Steinzeit zur Künstlichen Intelligenz

Wissensmanagement ist so alt wie die Menschheit. Schon in der Steinzeit musste Wissen um giftige und ungiftige Nahrungsmittel, um Methoden der Jagd und der Verteidigung und vieles mehr gesammelt und vermittelt werden. Ohne Wissensvermittlung wäre die Entwicklung der Menschheit nicht möglich gewesen.

Diese Wissensvermittlung war allerdings bis in die Neuzeit hinein recht überschaubar: Noch in der Renaissance wurde Bildung als ganzheitlich, Kultur und Technik umfassend verstanden. Angestrebt wurde das - damals erreichbare - Ideal des Universalgelehrten, der einen weitreichenden Überblick über das gesamte Menschheitswissen hat. Das beste Beispiel ist sicherlich Leonardo da Vinci, der sich intensiv sowohl mit der Kultur als auch mit der Technik seiner Zeit auseinandergesetzt hat.

Die Erfindung des Buchdrucks führte zu einer Wissensexplosion, denn nun konnte Wissen erstmals unabhängig von persönlichen Kontakten in großem Stil weitergegeben werden. Eine Wissensexplosion, die vor einem halben Jahrhundert in der Entwicklung von Computern gipfelte. Computer, denen man dann in den 70er Jahren sogar zutraute, das immer noch explosionsartig zunehmende Wissen der Menschheit zu verwalten. Expertensysteme und Künstliche Intelligenz (KI), das waren damals Schlagworte der Forscher, die viele Fördertöpfe zum Sprudeln brachten.

Und wo ist diese Künstliche Intelligenz heute? In Forschungsberichten begraben, verschwunden von den Schreibtischen der Manager! Schade, denn eigentlich müsste die heute so intensiv geführte Auseinandersetzung um das Wissensmanagement zwangsläufig mit der Frage nach den Ursachen des Scheiterns der KI-Forschung beginnen. Und nun sind wir wieder bei der Überschrift, denn eine der Hauptursachen für den Misserfolg der KI-Systeme war ihre Techniklastigkeit und die Überzeugung, menschliches Wissen ließe sich vollständig in Algorithmen abbilden. Und dennoch war die KI-Forschung nicht umsonst, denn ihr verdanken wir heute mächtige Werkzeuge und Datenbankkonzepte, die inzwischen als das genutzt werden, was sie sind: Werkzeuge und Datenbanken.

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Kehrtwende aus der Sackgasse Techniklastigkeit

Künstliche Intelligenz ist heute kein Forschungsthema mehr. Trotzdem steht uns über das Internet oder über Intranets mehr Wissen denn je zuvor zur Verfügung. Allerdings reift die Erkenntnis, dass dieses Wissen selten in verwertbarer Form abrufbar ist. Und wieder stürzen sich ganze Branchen auf eine einzige Problemstellung:

Die Verwertung des global oder auch nur des unternehmensintern verfügbaren Wissens.

Dr. Peter Schütt, Regional Offering Executive für Knowledge Management in Zentraleuropa bei IBM Global Services, berichtet von den ersten Ansätzen vor mehr als 6 Jahren, als das IBM-Management versuchte, das Wissen der Mitarbeiter in Datenbanken zu packen. Dieser Ansatz zu Intellectual Capital Management, so hieß Wissensmanagement damals, endete schon nach wenigen Monaten in einer Sackgasse: Die Datenbanken wurden nicht benutzt. Wissensmanagement durch den Einsatz von Technik pur, aber Wissensmanagement ohne Kultur.

Und das ist leider auch das Konzept von vielen anderen derzeitigen Anbietern von Wissensmanagement-Lösungen. Meist handelt es sich dabei nur um aufgebohrte Dokumentenverwaltungs-Systeme, für die mit einem neuen Etikett nach Käufern gesucht wird.

IBM hat die Sackgasse sehr bald erkannt und eine radikale Kehrtwendung vollzogen. Wohlgemerkt, eine Kehrtwendung mit der Technik und keineswegs gegen die Technik. Es wurden, initiiert durch das Top-Management, bereichs- und länderübergreifende Expertennetzwerke zu bestimmten Themengebieten gebildet. Und nach dem Motto "Dabei sein ist alles" wurden diese Wissensnetzwerke, von denen es inzwischen weltweit über 50 mit im Einzelfall bis zu 4.000 Mitgliedern gibt, zu Selbstläufern.

Natürlich wird dabei die EDV-Technik in Form so genannter Best-Practice-Datenbanken und Diskussionsforen genutzt, sonst wäre solch ein internationaler Erfahrungsaustausch nicht möglich. Trotz der modernen Technik mit ihren vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten wird allerdings sehr viel Wert darauf gelegt, dass die Teammitglieder sich regelmäßig zu einem persönlichen Gedankenaustausch treffen. Dazu veranstalten die Netzwerke Wissenskonferenzen - übrigens grundsätzlich ohne zentrales Budget. Deren Teilnehmer tragen ihr Wissen zusammen und tauschen es aus. Ein reges Geben und Nehmen in einem Vertrauensumfeld: Dabei sein ist alles.

Und so ergibt sich plötzlich, quasi durch die Hintertür, ein Anreiz zum Mitmachen bei dem Prozess der Wissensvermittlung. Die Erkenntnis bei IBM: Es muss ein Motivationsschub getriggert und eine Austauschkultur entwickelt werden. Die Technik spielt dabei sicher eine wichtige Rolle, allerdings auf dem ihr gebührenden Platz - nämlich im Hintergrund.

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Wissensmanagement ganz ohne Technik?

Dass Wissensmanagement sogar völlig ohne EDV auskommt, propagiert voller Überzeugung Dr. Wolfgang Cypris von Cypris Consulting in Braunschweig. Cypris, ein ehemaliger Industriemanager und Unternehmensberater bei Roland Berger & Partner, der schon vor mehr als 20 Jahren über das lernende Unternehmen promoviert hat, berichtet von vielen erfolgreichen Sanierungen in Produktionsbetrieben. Immer wieder lag dabei der Schlüssel zum Erfolg im Aufbau einer Kommunikations- und Wissensvermittlungskultur, und zwar bis hinunter zur Facharbeiterebene, also durchgängig vom Kapitän bis zum Maschinisten und zurück.

"Es gibt nichts, womit eine kränkelnde und unwirtschaftliche Produktion schneller auf Vordermann gebracht werden könnte als durch die Einführung eines täglichen und sorgfältig moderierten Informationsaustausches", so Cypris. Anfangs stoße dies zwar immer auf immensen Widerstand; allerdings hat er noch keinen Fall erlebt, bei dem diese täglichen Kurzbesprechungen wegen der spürbaren Erfolgserlebnisse nicht innerhalb kürzester Zeit zu einem Selbstläufer geworden sind. Wissensmanagement und Wissensaustausch an der Basis - und zwar durch die Entwicklung und behutsame Pflege einer Kommunikationskultur, ohne auch nur einen Pfennig für Wissensmanagement-Systeme oder EDV auszugeben.

Und damit sind wir bei einem hinsichtlich seiner Implikationen nicht zu unterschätzenden Aspekt des Wissensmanagements: Einerseits gibt es die Systemanbieter mit ihren meist jungen, dynamischen und sicher hochtalentierten Systemanalysten und EDV-Spezialisten. Ihnen fehlt jedoch häufig die praktische Erfahrung im Umgang mit den Menschen, deren Wissen ja letztlich gemanagt werden soll. Andererseits gibt es da die alten Hasen wie Cypris und viele andere, die seit Jahren eigentlich nie etwas anderes als Wissensmanagement betrieben haben, ohne EDV und Internet, aber als Bestandteil einer fest verankerten Unternehmenskultur.

Beide, die EDV-Profis und die alten Hasen, werden in Zukunft nicht ohne einander auskommen. Die Unternehmensprozesse sind heute so komplex geworden, dass auch gut eingespielte Teams mit hervorragenden Kommunikationsstrukturen diese ohne den Einsatz moderner EDV-Lösungen nicht mehr werden bewältigen können. Und die EDV-Spezialisten sollten bei der Entwicklung von Wissensmanagement-Systemen nie vergessen, dass die elektronische Abbildung menschlichen Wissens in all seinen Ausprägungen auf lange Zeit ein Wunschtraum bleiben wird.

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Fazit

Wissensmanagement im Spannungsfeld zwischen Kultur und Technik? Der Faktor Mensch wird auch hier das Maß aller Dinge bleiben.

Deshalb ist Wissensmanagement zunächst eine Kultur - eine Kultur, die durch Menschen aus Fleisch und Blut gelebt und vorgelebt werden muss. Technik ist dabei allenfalls ein Vehikel, das benötigt wird und eingesetzt werden muss, um voranzukommen. Ohne Menschen, die begeisterungsfähig und willig sind, wird sich dieses Vehikel allerdings wie ein Karussell auf einem Jahrmarkt stets und immer um den eigenen Mittelpunkt drehen.

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