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7/2014
Kolumne Kolumne

…weiß niemand, wohin führt der Weg

von Gabriele Vollmar

In Vorträgen und Artikeln wird in der Regel gerne die Dynamik der weltweiten Wissensentwicklung als Legitimation für Wissensmanagement angeführt. Das ist auch sicher richtig. Aber Hand aufs Herz: Wie viele Wissensmanagement–Systeme in Organisationen kennen Sie, die sich ernsthaft mit der Fragestellung der Wissensentwicklung auseinandersetzen? Ist es nicht vielmehr so, dass, wenn man sich das Wissensmanagement in den Unternehmungen anschaut, das Hauptaugenmerk auf dem alten, nicht aber dem potenziell neuen Wissen liegt? Das bewirtschaften, verwalten, strukturieren, steuern, was wir haben – darum geht es. Unser Blick ist rückwärts, nicht vorwärts gerichtet. Selbst Ansätze wie Lessons Learned, die prinzipiell zukunftsgerichtet sind, weil ja die Wiederholung von Erfolgen bzw. das Vermeiden von Misserfolgen gewährleistet werden soll, blicken selbst auf das Vergangene und verstetigen in gewisser Weise altes Wissen.

In Vorträgen und Artikeln wird in der Regel gerne die Dynamik der weltweiten Wissensentwicklung als Legitimation für Wissensmanagement angeführt. Das ist auch sicher richtig. Aber Hand aufs Herz: Wie viele Wissensmanagement–Systeme in Organisationen kennen Sie, die sich ernsthaft mit der Fragestellung der Wissensentwicklung auseinandersetzen? Ist es nicht vielmehr so, dass, wenn man sich das Wissensmanagement in den Unternehmungen anschaut, das Hauptaugenmerk auf dem alten, nicht aber dem potenziell neuen Wissen liegt? Das bewirtschaften, verwalten, strukturieren, steuern, was wir haben – darum geht es. Unser Blick ist rückwärts, nicht vorwärts gerichtet. Selbst Ansätze wie Lessons Learned, die prinzipiell zukunftsgerichtet sind, weil ja die Wiederholung von Erfolgen bzw. das Vermeiden von Misserfolgen gewährleistet werden soll, blicken selbst auf das Vergangene und verstetigen in gewisser Weise altes Wissen.

Natürlich bewegen wir uns, wenn wir uns mit dem beschäftigen, was wir kennen, in einem relativ gesicherten Raum. Wenn wir uns mit der Zukunft beschäftigen und dem potenziell Neuen, verlassen wir diesen Raum und begeben uns auf eine Reise, deren Ausgang schwer prognostizierbar ist. Welches Wissen wird am Ende stehen? Welchen Wert wird dieses Wissen für uns und unsere Organisation haben? Welchen Aufwand müssen wir investieren, um es zu bekommen, zu entwickeln? Wird es das sein, was wir benötigen? Woher wissen wir überhaupt, was wir benötigen?

Kurz, es geht um strategische Fragestellungen – unternehmensstrategische und auch wissensmanagement-strategische. Und gleich nochmal Hand aufs Herz: Wie viele Organisationen kennen Sie, die eine veritable Wissensmanagement-Strategie haben? Verknüpft mit der Unternehmensstrategie? Eine WM-Strategie, die regelmäßig auf den Prüfstand gestellt und angepasst wird? Eine WM-Strategie, die bewusst auch eine Lern- und Entwicklungsstrategie ist? In wie vielen Unternehmen ist der Wissensmanager, so es ihn denn gibt, beteiligt an der Strategieentwicklung? Um Fragen zu stellen nach zur Erreichung der Zukunftsziele notwendigem und relevantem Wissen? Um die mit der Unternehmensstrategie verknüpften Lern- und Entwicklungsziele zu thematisieren? Oder ist der Wissensmanager nicht vielmehr nur derjenige, der die so genannte WM-Lösung auf SharePoint betreut?

Es ist aber nicht nur ein strategisches Manko, warum Wissensentwicklung im Wissensmanagement stiefkindlich behandelt wird. Es ist auch ein Zeitmanko. Neues Wissen entsteht in der Zeit und mit der Zeit. Es entsteht dann, wenn wir Zeit haben zu denken. Ganz schlicht.

Laut philosophischem Wörterbuch fasst der Begriff Denken alle Vorgänge zusammen, die aus einer inneren Beschäftigung mit Vorstellungen, Erinnerungen und Begriffen eine Erkenntnis zu formen versuchen. Also eine innere Beschäftigung, d.h. eine Beschäftigung, die Ruhe und Konzentration erfordert. Und eine Beschäftigung, die versucht (!) eine Erkenntnis zu formen, d.h. der Ausgang ist ungewiss. Ohne Erfolgsgarantie. Ohne Messparameter.

Was schätzen Sie? Wie viel Zeit am Tag haben Sie für konzentriertes Denken? Wie hoch ist der Denk-Koeffizient Ihrer Organisation?

Bei seinem Vortrag während der letzten Kremser Wissensmanagement-Tage hat der Wiener Wissenschaftstheoretiker Prof. Markus Peschl erzählt, wie er Unternehmen zu radikaler Innovation führt. Laut Peschl sind übliche Kreativitätstechniken förderlich für inkrementelle Innovation, weil sie die Paradigmen, in denen wir denken, nicht bewusst machen und wir daher in diesen Paradigmen verharren und auch unsere „neuen“ Ideen Teil dieser althergebrachten Paradigmen bleiben. Um radikal zu innovieren, sei es in einem ersten Schritt aber wichtig, genau diese Paradigmen bewusst zu machen, um sie dann auch verlassen zu können. Genau dann, so Peschl, entstünde in den Köpfen oft eine erste Idee, ein erster noch ganz zarter und fragiler Gedanke. Im nächsten Schritt geht es nun aber genau nicht darum, diesen Gedanken zu fassen, gewissermaßen ans Licht zu zerren. Dann, so Peschl, verschwindet er wieder. Im zweiten Schritt geht es darum, die Ruhe zu suchen. Sich in ein möglichst reizfreies Umfeld zu begeben und die Gedanken schweifen zu lassen. Diesen einen neuen Gedanken also in Ruhe zu lassen, ihm Zeit zum Reifen zu geben. Zu warten, bis er selbst ans Licht tritt. Radikal, oder? Sich Zeit lassen. Nichts tun. Sich seinen Gedanken überlassen. In unserem Arbeitskontext unvorstellbar, oder? Aber wie vorstellbar ist es, dass echtes neues Wissen anders entsteht?

Nach vielen Fragen in dieser Kolumne entlasse ich Sie mit den Worten von Thomas Traherne, englischer Dichter, Geistlicher und Mystiker: „Und bis am End‘ Erkenntnis steht, weiß niemand, wohin führt der Weg.“


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