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8/2006
Editorial Wissensmanagement

Wissen verlagern: Standortentscheidungen aus der Wissensperspektive

von Sibylle Peters, Holger Seidel, Kai Reinhardt

Wie wirken sich Standortverlagerungen auf die Wissens- und Innovationspotenziale von Unternehmen, Regionen bzw. Gesellschaften aus? Wie werden die tatsächlichen Wissens- und Fähigkeitsbestände der Mitarbeiter im Rahmen von Standortbewertungen berücksichtigt und in Entscheidungen der Standortverlagerung mit einbezogen? Diese Fragen werden bisher in den sozioökonomischen Diskursen nahezu völlig vernachlässigt und in der Unternehmenspraxis nur unzureichend beantwortet.

Wie wirken sich Standortverlagerungen auf die Wissens- und Innovationspotenziale von Unternehmen, Regionen bzw. Gesellschaften aus? Wie werden die tatsächlichen Wissens- und Fähigkeitsbestände der Mitarbeiter im Rahmen von Standortbewertungen berücksichtigt und in Entscheidungen der Standortverlagerung mit einbezogen? Diese Fragen werden bisher in den sozioökonomischen Diskursen nahezu völlig vernachlässigt und in der Unternehmenspraxis nur unzureichend beantwortet.

 

Aktuelle Trends von Standortverlagerungen

Die Gründe, warum Unternehmen international aktiv werden, sind so vielfältig wie die Unternehmenspraxis selbst. Laut einer Befragung des Deutschen Industrie- und Handelkammertages (DIHK) aus dem Jahre 2003 liegen die Hauptmotive bei den Arbeitskosten sowie der Steuerlast am Standort. Zusätzlich gewinnt seit Ende der 1990er Jahre die Verfolgung marktbasierter Strategien als drittes Motiv stärker an Bedeutung. Gemeint sind Strategien, deren vorrangiges Ziel es ist, in Auslandsmärkte zu investieren, um Absatzpotenziale auszuschöpfen und Marktpräsenz auszubauen. In den vergangenen Jahren sind dabei vor allem die so genannten Niedriglohnländer in Mittel- und Osteuropa sowie China zu den Hauptzielregionen westeuropäischer Unternehmen geworden.

Die Bereitschaft zur Verlagerung steigt mit zunehmender Unternehmensgröße. Kleine und mittlere Betriebe ziehen eine Verlagerung seltener in Betracht als größere Unternehmen, da ein solcher Schritt die Kapazitäten überschreiten könnte und die zu erwartenden Vorteile damit geringer ausfallen dürften. Allgemein verlagern Unternehmen vor allem einfache und arbeitsintensive Tätigkeiten mit geringer Wertschöpfung in Niedriglohnländer. Die kapitalintensive, komplexe Produktion mit einem hohen Wertschöpfungsanteil belassen sie dagegen eher in Deutschland bzw. Westeuropa. Firmen mit Produkten in der mittleren Komplexitätsklasse weisen demnach einen höheren Verlagerungsanteil auf als Unternehmen mit sehr einfachen und sehr komplexen Erzeugnissen.

Standortentscheidungen sind insgesamt hoch komplex. So haben z.B. seit einigen Jahren Internationalisierungsaktivitäten in Form von Verlagerungsprozessen nicht immer zum erwarteten Erfolg geführt. Das heißt, es fand eine reversible Verlagerungsentscheidung statt. Der Grund: Die Mehrzahl der Rückverlagerer hat die ursprüngliche Standortentscheidung nur wenig systematisch oder ganzheitlich als Unternehmensentscheidung getroffen. Eine neue Wertschätzung erhielt in der Retrospektive vor allem das Produktivitätsniveau des deutschen Standortes, das Ausbildungs- und Qualifikationspotenzial der regionalen Arbeitskräfte sowie die Kooperations- und Vernetzungsmöglichkeiten in der heimischen Region. [1] Insgesamt steigt die Wahrscheinlichkeit einer Verlagerung:

• je größer das Unternehmen ist,

• je geringer die Wertschöpfung der Produktions- und Arbeitsprozesse ist,

• bei einer eher mittleren Produktkomplexität,

• bei standardisierbaren und lohnintensiven Produkten.

 

Wissensbewertung und Standortentscheidung

Standortentscheidungen bedürfen in ihrer Komplexität einer strukturierten Herangehensweise. Eine Standortbewertung liefert bei der Suche und Auswahl des geeigneten Ziellandes eine strukturierte Informationsgrundlage zu den unterschiedlichen Standortalternativen. Dabei sollten Unternehmen nicht nur offensichtliche Faktoren, wie technische Leistungsoptimierung und Fertigungstiefe, einbeziehen, sondern auch die so genannten "weichen" Faktoren. Denn diese haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den unternehmerischen Erfolg.

Erst wenn ein Unternehmen seine Potenziale erkannt hat, kann es Verlagerungsentscheidungen differenziert betrachten. Daher sind adäquate Bewertungsverfahren erforderlich, die eine sichere Einschätzung der Potenziale und Risiken des neuen Standortes gewährleisten.

Je komplexer die Rahmenbedingungen werden, in denen ein Unternehmen agiert, desto schneller geraten heutige Bewertungsansätze an ihre Grenzen. Die damit gewonnenen Ergebnisse weisen vor allem Mängel in der Darstellung dynamischer Zustände auf und reichen damit als Grundlage für eine wissensbasierte Standortentscheidung nicht aus. Bevor die Entscheidung für eine Verlagerung fällt, sollten die Verantwortlichen vielfältige Fragen hinsichtlich des intellektuellen Kapitals beantworten können, u.a.:

• Wie wirkt sich der Transfer auf die Handlungsfähigkeit des Unternehmens aus?

• Wie viel Wissen und Kompetenz geht durch den Transfer verloren?

• Wie viel Wissen wird durch den Standorttransfer hinzugewonnen?

• Sind am neuen Standort bessere qualifikatorische Rahmenbedingungen gegeben?

• Wie hoch sind die Investitionen, um ähnliche qualifikatorische Voraussetzungen wie am alten Standort zu schaffen?

• Wie wird sich der Transfer langfristig auf die Innovationsfähigkeit des Unternehmens auswirken?

Aus diesen Fragestellungen lassen sich zwei zentrale Bedarfe identifizieren, die künftig befriedigt werden müssen:

• Bedarf A: Unternehmen benötigen präzise Informationen über den Einfluss des intellektuellen Kapitals auf die Wertschöpfungsprozesse.

• Bedarf B: Unternehmen benötigen Standortbewertungsinstrumente, die auf eine ganzheitliche Betrachtung, auf dynamische Umfeldbedingungen und lokale Netzwerkstrukturen ausgerichtet sind.

Wissen gewinnt künftig als zentraler Standortfaktor immer mehr an Bedeutung. Unternehmen müssen daher ihr Wissenspotenzial einschätzen und benötigen daher verlässliche Instrumente zur Wissensbewertung. Die Wissensbewertung soll die Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Verwendbarkeit von Wissen thematisieren und Unternehmen so eine intellektuelle Grundlage zur Identifizierung und Erfassung ihrer wissensbezogenen Aktivitäten und Werttreiber geben. Basierend auf einer Wissensbewertung können sie ihre Vision und Strategie auf Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge ausrichten. Denn der einzig zu erlangende unikate Vorteil eines Unternehmens gegenüber der Konkurrenz besteht im Zugang und der Nutzung von Wissens- und Kompetenzbeständen - kurz: den Mitarbeitern.

 

Das intellektuelle Kapital

Die Betrachtung des Unternehmens aus der Wissensperspektive fordert eine neue Form der Unternehmensführung, d.h. vor allem die Anerkennung des Humankapitals als Vermögenswert. Unternehmen sollten sich die Frage stellen, ob ihre Mitarbeiter beliebig ersetz- und austauschbar - oder im wahrsten Sinne wertvoll sind. Eine Operationalisierung der Wissensbegrifflichkeit ist die Verwendung des Begriffs intellektuelles Kapital. Dieser umfasst die Gesamtheit des Wissens, welches dem Unternehmen Wettbewerbsvorteile ermöglichen kann. Das intellektuelle Kapital richtet sich perspektivisch auf künftige Ertragspotenziale und Wertsteigerungen.

Vor diesem Hintergrund hat sich eine Vielzahl von Modellen und Ansätzen entwickelt. Eine der am häufigsten gebrauchten Systematiken ist die Differenzierung in deduktiv-summarische Ansätze (u.a. Markt-Buchwert-Relationen, Tobins`q, Calculated Intangible Value) und induktiv-analytische Ansätze (u.a. Intangible Assets Monitor, Intellectual Capital Navigator, Balanced Scorecard). Mit dem deduktiv-summarischen Ansatz kann der monetäre Wert des immateriellen Vermögens eines Unternehmens ermittelt werden. Der induktiv-analytische Ansatz stellt einzelne Elemente der Wissensbasis eines Unternehmens dar und bewertet diese mit dem Ziel, Ausgangspunkte zu deren Entwicklung zu liefern.

Trotz guter Konzepte sind die etablierten Mess- und Bewertungsansätze bisher nicht in der Lage, ein umfassendes Bild der immateriellen Werte eines Unternehmens abzubilden. Aktuellere Ansätze liegen beispielsweise mit Konzepten der Wissensbilanzierung vor. Sie versuchen, neben der Herstellung eines Bezugs zu den Geschäftsprozessen, auch die Nutzung von Indikatoren und die Ermittlung monetärer Werte aufzunehmen.

 

Der Wissensstandort-Monitor

Eine Untersuchung von Fallbeispielen bisher durchgeführter Verlagerungsentscheidungen diente als Basis zur Erarbeitung eines strukturierten Analyseinstruments, dem Wissensstandort-Monitor. Er ermöglicht eine differenzierte Betrachtung von Standortentscheidungen unter der Wissensperspektive. Dieses Verfahren soll die Entscheider und Verantwortlichen dahingehend unterstützen, Einflussparameter und Wirkungskomplexität einer Standortentscheidung in einen wissensbasierten Gesamtrahmen zu überführen. Das Grundprinzip des Wissensstandort-Monitors basiert auf der Analyse von zwei Dimensionen der Standortentscheidung: dem Ziel der Standortentscheidung sowie den wissensbezogenen Auswirkungen am lokalen Standort.

Die Dimension "wissensbezogene Auswirkungen für den lokalen Standort" repräsentiert perspektivisch die Situation des bisherigen Standorts nach der Durchführung des Entscheidungsprozesses und differenziert sich in drei mögliche Wissenspositionen: Wissensaufbau, Wissenserhalt und Wissensverlust. Abhängig von der Ausprägung der Verlagerungsentscheidung kann dies positive als auch negative Auswirkungen auf den Kompetenz- und Wissensbestand des heimischen Standorts haben. Die zweite Dimension "Ziel der Standortentscheidung" spiegelt das örtliche Ziel einer Verlagerung wider. Die Drei-Stufen-Abstraktion Auslandsverlagerung, Verbleib und Rückverlagerung repräsentiert die drei häufigsten Standortentscheidungen von Unternehmen.

Setzt man die beiden Dimensionen des Monitors in Beziehung zueinander, ergeben sich dadurch neun verschiedene Cluster wissensbezogener Verlagerungstypen. Daraus lassen sich Aussagen und Abstrahierungen zu den einzelnen Verlagerungstypen entwickeln, die in der konkreten Praxis einer Standortentscheidung, im Idealfall als eine Art Checkliste dienen können. [2]

 

Fazit

Die Beziehung zwischen internationalen Standortentscheidungen und einer systematischen Berücksichtigung des intellektuellen Kapitals zeigt, dass die immanente Rolle des intellektuellen Kapitals in statischen Denk- und Vorgehensweisen traditioneller Standortanalysen kaum abzubilden ist. Daher sind Methoden erforderlich, die auf dynamische Umfeldveränderungen eingehen können. Um im globalen, aber auch nationalen Wettbewerb langfristig bestehen zu können, werden sich neben Großunternehmen und den so genannten Global Playern zunehmend auch kleine und mittelständische Unternehmen mit Verlagerungsüberlegungen auseinandersetzen müssen. In den Industrieländern hat der globale Wettbewerb längst die nächste Stufe der Wertschöpfung erreicht. Die Anzeichen mehren sich, dass nicht mehr nur wissensarme Arbeitsprozesse, sondern bereits Bereiche mit hoher Wertschöpfung und hochqualitativen Tätigkeiten in Niedriglohnländer abwandern.

Grundsätzlich kann und soll Unternehmen nicht von Verlagerungen abgeraten werden, denn häufig trägt die Auslagerung bestimmter Wertschöpfungsprozesse zur langfristigen Wettbewerbsfähigkeit bei. Vielmehr sollten Unternehmen das Interesse haben und in der Lage sein, die für sie richtige Standortentscheidung zu treffen. Dies ermöglichen strategische und ganzheitliche Beobachtungs- und Bewertungsverfahren. Sie zeigen Risiken und Potenziale der Standortentscheidung auf. Mitunter lassen sie erkennen, dass das Unternehmen die heimischen Wissenspotenziale nur schwer oder kostenintensiv ersetzen kann.

Zweifellos wird es aufgrund der gesellschaftsökonomischen Entwicklungen und des globalen Wettbewerbs zukünftig unabwendbar, die wissensbasierten Wertschöpfungs- und Erfolgsfaktoren von Unternehmen zu bewerten und zu erfassen. Daher sind geeignete Verfahren zur Erfassung des intellektuellen Kapitals dringend erforderlich. Die Einbeziehung von Konzepten des Wissensmanagements in die Standortentscheidung, wie z.B. die Wissensbilanz, können hier ein Umdenken innerhalb der Unternehmen fördern.

 

Literatur:

[1] Schulte, A.: Das Phänomen der Rückverlagerung - Internationale Standortentscheidungen kleiner und mittlerer Unternehmen, Wiesbaden 2002.

[2] Peters, S./Reinhardt, K./Seidel, H.: Wissen verlagern - Risiken und Potenziale internationaler Standortverlagerungen, Wiesbaden 2006.

[3] FHG ISI 2004 - Kinkel, S.; Lay, G.; Spormenka, M.: Produktionsverlagerungen ins Ausland und Rückverlagerungen. Ergebnisse aus der Erhebung "Innovation in der Produktion" des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung, Karlsruhe 2004.


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