2018/2 | Fachbeitrag | Wissenstransfer

Kollegiale Beratung: Wissen aus dem Nachbarbüro

von Annelie Michael

Inhaltsübersicht:

Arbeitsplatznah, effizient und höchst relevant – die Rede ist von der kollegialen Beratung. Wann gelingt der Austausch zwischen Mitarbeitern im Joballtag? Und wie lässt sich der Prozess standardisieren und etablieren? Ein Report.

Rolf Langen (Name von der Redaktion geändert) ist vor kurzem zum Vertriebsleiter eines Maschinenbauunternehmens befördert worden. In einer offenen Gesprächsrunde stellt er seinen drei Kollegen aus dem Vertrieb, der Produktentwicklung und dem Kundendienst sein Anliegen vor: Einem seiner Großkunden hat er eine sehr komplexe maßgeschneiderte Lösung für eine Verpackungsanlage verkauft. Letzte Woche hat er von seinem Chef „eins auf den Deckel bekommen“, weil sich der Kunde bei ihm über die langen Reaktionszeiten von manchmal bis zu einer Woche bei E-Mails und Telefonaten zu technischen Fragen und Problemen beschwert hat.

Die drei Kollegen haben zugehört, viele Fragen gestellt und schließlich ihre Ideen für einen konstruktiven Umgang mit dem Kunden eingebracht:

  • Der erfahrene Kollege aus dem Vertrieb rät ihm, einen Mitarbeiter aus dem Kundendienst frühzeitig mit zum Kunden zu nehmen;
  • der Kollege aus dem Kundendienst regt an, dass das Vertriebsteam das nächste Mal an den Kundendienst-Schulungen teilnehmen könnte,
  • und der Konstrukteur überlegt, ob er zukünftig bei gleichen Kosten ein hochwertigeres Teil bei einem anderen Lieferanten finden kann.

Dem jungen Vertriebsleiter fällt ein, dass er in seinem neuen Team einen Mitarbeiter hat, der für seinen engen Draht zum Kunden bekannt ist und wirkt zufrieden: Er hat Anregungen und Lösungsvorschläge erhalten, auf die er selbst nicht gekommen wäre.

Viele Köpfe sind weiser

Was auf den ersten Blick wie ein Rollenspiel in einem Training anmutet, ist in Wirklichkeit ein strukturierter Kollegen-Austausch – eine so genannte kollegiale Beratung, auch zu verstehen als Reflecting Group, bei der es darum geht, das Expertenwissen von Kollegen zu nutzen, die „near the job“ Ratschläge aus ihrem Blickwinkel geben. Das Konzept dahinter: Der Ratsuchende (Fallgeber) entwickelt für sein konkretes berufliches Problem Lösungen. Und die Kollegen als interne Berater lernen aktiv zuzuhören und wirkungsvolle Fragen zu stellen, die beim Fallgeber eine Reflexion auslösen. Die Reflecting Group, die auf Führungskräfte- oder Mitarbeiterebene meist in einer Gruppe von fünf bis zehn Personen stattfindet, folgt einer klar strukturierten Systematik mit fest gelegten Prozessschritten:

  1. Das Anliegen schildern: Der Moderator – das kann zum Beispiel ein HR-Mitarbeiter oder ein externer Berater sein – erläutert die Gesprächsregeln. Der Fallgeber schildert sein Anliegen und die Kollegen als interne Berater hören aufmerksam zu.
  2. Die Befragung und Wertschätzung: Die Beratergruppe stellt Verständnisfragen. Jeder Berater drückt in einem Satz aus, was dem Fallgeber seiner Meinung nach bisher schon gut gelungen ist.
  3. Das Anliegen verstehen: Die Berater analysieren den Fall ohne den Fallgeber, der in dieser Phase „nur“ zuhört. Der Fallgeber lässt die Überlegungen der Berater zunächst auf sich wirken und schildert, was diese bei ihm ausgelöst haben.
  4. Die Berater machen Lösungsvorschläge und der Fallgeber gibt Feedback: Der Moderator hält die Vorschläge schriftlich fest. Der Fallgeber teilt mit, welche der genannten Ideen er probieren möchte. Die Berater hören zu und bewerten seine Entscheidung nicht.
  5. Austausch und Dank: Der Fallgeber und die internen Berater tauschen sich darüber aus, was im gesamten Prozess methodisch und inhaltlich gut gelaufen ist und was sie vertiefen wollen. Der Fallgeber bedankt sich abschließend.

Ein steigendes Interesse an dem Format zeigt sich sowohl bei KMU als auch bei Großunternehmen, die einen kulturellen Wandel hin zum „Wir“ vollziehen wollen. Im Zuge zunehmender Projektarbeit in wechselnden Teams und komplexer Arbeitsprozesse wird die Teilung und Streuung des Wissens über Hierarchie- und Abteilungsebenen hinweg wichtiger – zusätzlich befeuert durch die Digitalisierung, die kooperatives Arbeiten fordert und fördert. „In einer digitalisierten Arbeitswelt hat das Erfahrungswissen einen großen Wert. Der Austausch von Wissen kann nicht von oben verordnet werden. Es braucht ein Format, das es Mitarbeitern ermöglicht, sich vertrauensvoll zu unterstützen und Lösungswege selbstständig zu erarbeiten“, sagt Peter Dehnbostel, Professor für Weiterbildung und Betriebliches Bildungsmanagement an der Deutschen Universität für Weiterbildung in Berlin.

Lösungen auf Abruf

Start-ups, die ohnehin auf Austausch und Partizipation setzen, kommt das interaktive Lernen sehr entgegen und kann insbesondere in der Phase des Wachstums unterstützend wirken: Wenn sich die kleine „Zehnmann-Bude“ in kurzer Zeit zu einem 200-Mann-Unternehmen mit Abteilungen entwickelt, befürchten Gründer und Mitarbeiter oftmals den Verlust von Anfängergeist und Nähe. Auch die eigene Wirksamkeit geht gefühlt ein Stück weit verloren, weil Aufgaben an andere abgegeben werden müssen.

Damit dieser Übergang gut gelingt, ist die Methode ideal: Herausforderungen können gemeinsam in einer heterogen zusammengesetzten Gruppe reflektiert und Fragen erörtert werden, die eine schnelle Antwort erfordern, zum Beispiel: Warum fällt es mir schwer, „mein“ Produkt „loszulassen“ und meinem Mitarbeiter zu vertrauen, dass er es gut weiterentwickelt? Und: Wie muss ich in meiner Rolle als Führungskraft Aufgaben so beschreiben, dass Mitarbeiter sie gut lösen können?

Nicht nur zur Reflexion der eigenen Führungsrolle und bei Verhaltensunsicherheiten ist dieses Personalentwicklungsinstrument geeignet, sondern vor allem dann, wenn Wissensarbeiter ad-hoc eine Antwort auf ein individuelles komplexes Problem brauchen, worauf sie nicht bis zum nächsten Seminar warten können, das womöglich erst in drei Monaten stattfindet. Weniger angebracht ist die Reflecting Group dagegen bei persönlichen Themen, die eher in die Hände eines professionellen Coachs gehören.

Kein Selbstläufer

Trotz vieler Vorteile ist das soziale Lernformat kein Selbstläufer. Damit es gelingt, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Neben dem Commitment der Unternehmensleitung, dass sich heterogene, abteilungsübergreifende Teams – sprich Querverbindungen – bilden, muss ein fester Raum und auch Zeit von allen Mitarbeitern und Führungskräften respektiert werden. Wenn der eingangs vorgestellte Vertriebsleiter Rolf Langen nicht beim Kunden, sondern in der kollegialen Beratung sitzt, ist das für die Geschäftsleitung oftmals „nur schwer auszuhalten“. Liegt ein sehr starker Fokus auf der Umsatzgenerierung oder steht die Geschäftsleitung unter einem enormen Druck, sollte man diese Entwicklungsmethode eher nicht einführen. Generell kann in Unternehmenskulturen, die sehr stark auf Einzelkämpfertum und Wettbewerb ausgerichtet sind, die Reflecting Group nur schwer gedeihen. Auch die Haltung, von dem Austausch profitieren zu müssen, verbunden mit dem Ziel, dass zwingend ein Ergebnis herauskommen muss, ist kontraproduktiv und steht einer der wichtigsten Zutaten zum Gelingen im Weg: dem Vertrauen, offen miteinander zu sprechen.

Sinnvoll ist es, zu Beginn des Prozesses einen externen Berater als Moderator hinzuzuziehen, der Prozess und Rollen beschreibt. Wurde der Selbstlernprozess, auch mit Hilfe von HR erfolgreich initiiert, sollte die Gruppe selbst einen Modus für weitere, möglichst regelmäßige Beratungsrunden festlegen, wobei ein Teilnehmer jeweils die Rolle des Moderators übernimmt. Denn der Charme dieses relativ kostengünstigen Personalentwicklungsinstrumentes liegt in der Freiwilligkeit, dem selbstgesteuerten Lernen und der schnellen Unabhängigkeit von externer Unterstützung.

 

 

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